Zwischen die Fronten geraten

Schwedische Jäger in Tunis verprügelt

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Im Taxi führten sie Jagdgewehre, dann flogen Fäuste: Man hielt sie für Aufständische.

Eine Gruppe schwedischer Jäger ist in Tunesien vorübergehend festgenommen worden. Das wurde am Montag in diplomatischen Kreisen in Tunis bestätigt. In tunesischen Fernsehberichten am Vorabend war von festgenommenen Deutschen die Rede gewesen; dies hat sich jedoch nicht bewahrheitet.

Die Männer waren in Tunesien Wildschweine jagen gewesen, konnten wegen der Unruhen aber nicht ausreisen. Stattdessen hatten sie versucht, auf eigene Faust mit einem Taxi ins Zentrum zu fahren. Als Sicherheitskräfte den Wagen durchsuchten und die Waffen fanden, kam es zu einem Missverständnis: Die Uniformierten dachten, die Ausländer wollten sich an den Auseinandersetzungen beteiligen.



Schwer verletzter Fotograf tot

Der im Verlauf des Volksaufstands schwer verletzte deutsch-französische Fotograf Lucas Mebrouk Dolega ist gestorben. Das teilte eine Vertreterin seines Arbeitgebers, der Fotoagentur EPA (European Pressfoto Agency), am Montag in Frankfurt am Main unter Berufung auf die französische Botschaft in Tunis und die Familie des Fotografen mit. Der 32-Jährige war am Freitag in der tunesischen Hauptstadt von einer Tränengasgranate am Kopf getroffen worden, als Sicherheitskräfte vor dem Innenministerium massiv gegen Demonstranten vorgingen.

Der Sohn einer deutschen Mutter und eines französischen Vaters hatte Verletzungen am Auge und an der linken Schläfe erlitten und war in Tunis operiert worden. Er lag zuletzt im Koma.

Fast 80 Tote, 1,6 Milliarden Euro Schaden
Nach Angaben des Innenministeriums in Tunis vom Montag sind bei den Ausschreitungen 78 Menschen getötet worden. Das entspricht etwa den Schätzungen von Menschenrechtsgruppen. 94 seien verletzt worden. Der wirtschaftliche Schaden durch den Aufstand, der am Freitag zur Flucht des Langzeit-Machthabers Zine el-Abidine Ben Ali geführt hatte, wurde mit 1,6 Milliarden Euro beziffert.

"Regierung der nationalen Einheit"
Premierminister Mohamed Ghannouchi hat am Montagnachmittag die Bildung einer "Regierung der nationalen Einheit" bekanntgegeben, der sechs Exponenten des bisherigen autoritären Regimes sowie Vertreter von drei kleinen Oppositionsparteien angehören. Hauptaufgabe des Übergangskabinetts ist die Vorbereitung demokratischer Präsidenten- und Parlamentswahlen unter internationaler Kontrolle.

EU fordert freie Wahlen
Nach der Bildung einer Übergangsregierung in Tunesien hat die Europäische Union freie und demokratische Wahlen in dem Mittelmeerland gefordert. Diese müssten unter internationaler Beobachtung stattfinden, betonte der Präsident des Europaparlaments, Jerzy Buzek, am Montag vor dem Plenum in Straßburg. Tunesien müsse nun sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. "Wir wollen einen friedlichen Übergang", sagte der polnische Politiker.

Schlüsselressorts behalten Chefs
Die Schlüsselressorts Äußeres, Inneres, Verteidigung, Wirtschaft und Finanzen behalten ihre bisherigen Chefs, wie Premierminister Ghannouchi am Montag in Tunis bekanntgab. Der Oppositionspolitiker Najib Chebbi von der Demokratischen Fortschrittspartei (PDP) wurde Minister für regionale Entwicklung. Ministerposten bekamen auch die Oppositionspolitiker Mustapha Ben Jaafar von der "Union für Freiheit und Arbeit" und Ahmed Ibrahim.

Freilassung aller politischen Gefangenen
Ghannouchi kündigte bei der Präsentation seiner Ministerliste die Freilassung aller politischen Gefangenen an. Die neue Regierung werde "ein neues Kapitel in der Geschichte Tunesiens schreiben", erklärte er. Insgesamt umfasst das Kabinett 19 Mitglieder, darunter auch nicht parteigebundene Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft.

Keine Zensur: Informationsministerium abgeschafft

Ein Informationsministerium gibt es in der neuen tunesischen Regierung nicht. Es war als Zensurinstanz für die Medien und Propagandamaschine des Regimes in der Bevölkerung besonders verhasst.

Neuwahlen binnen zwei Monaten
Von den am Wochenende geführten Verhandlungen, die Ghannouchi mit Führern zugelassener kleiner Oppositionsparteien führte, waren die unter Ex-Diktator Ben Ali verbotenen Islamisten sowie die Kommunisten ausgeschlossen. Nach den Bestimmungen der tunesischen Verfassung müssten Neuwahlen binnen zwei Monaten stattfinden. Oppositionsvertreter fordern aber eine Frist von sechs Monaten, um den Urnengang vorbereiten zu können und wirklich demokratisch zu gestalten.

Menschenrechtsaktivisten: Nationale Einheit "Maserkade"
Die "Regierung der nationalen Einheit" stößt bei tunesischen Menschenrechtsverfechtern auf Ablehung. Der ehemalige Vorsitzende der unter dem früheren Diktator Zine el-Abidine Ben Ali aufgelösten tunesischen Menschenrechtsliga und prominente Exilpolitiker Moncef Marzouki bezeichnete die neue Regierung unter dem alten Premier Mohamed Ghannouchi wenige Stunden nach ihrer Bildung als "Maskerade". Das Übergangskabinett werde von alten Weggefährten Ben Alis beherrscht.

"Nach etwa 90 Toten und vier Wochen der Volkserhebung hätte Tunesien etwas Besseres verdient!", sagte Marzouki am Abend dem französischen TV-Sender I-Télé. Das Etikett "nationale Einheit" sei nichts als ein Schwindel, denn die Regierung werde eindeutig von der "Partei der Diktatur" RCD dominiert. Diese kontrolliere das Innen-und das Sicherheitsministerium und verfüge damit auch über alle notwendigen Instrumente für die Manipulierung von Wahlen. Die drei kleinen bisherigen Oppositionsparteien, die in der Regierung bedeutungslose Posten erhalten hätten, seien schon von Ben Ali domestiziert worden. Die Tunesier würden sich von einer solchen "Maskerade" nicht täuschen lassen, betonte Marzouki.

Österreichische Diplomaten helfen
Unterdessen ist das österreichische Unterstützungsteam mit Beamten des Außen-, Innen- und Verteidigungsministeriums in Tunesien gelandet und hat seine Arbeit aufgenommen. Das Team wurde entsandt, um die österreichische Botschaft in Tunis zu unterstützen. Es soll die Lage bewerten und die Österreicher, die ausreisen wollen, dabei unterstützen, sagte der Sprecher des Außenministeriums, Harald Stranzl, auf Anfrage. Wie viele das sind, werde derzeit erhoben. Viele österreichische Urlauber sind am Wochenende aus dem Unruheland ausgeflogen worden. Bisher sind keine Österreicher zu Schaden gekommen.

Ben Ali mit 1,5 Tonnen Gold geflüchtet

Präsidenten Ben Ali war am Freitag nach 23 Jahren an der Macht gestürzt worden und hat sich nach Saudi-Arabien abgesetzt. Auslöser seines unfreiwilligen Abgangs waren Massenproteste gegen Korruption und hohe Arbeitslosigkeit. Sie hatten sich in der vergangenen Woche zu einem Volksaufstand ausgeweitet. Die Ehefrau Ben Alis soll kurz vor der Flucht ins Exil noch 1,5 Tonnen Gold von einer Bank abgeholt haben.

Die Funktionen des Staatsoberhauptes werden nun verfassungsgemäß vom Präsidenten der Nationalversammlung, Fouad Mebazaa, wahrgenommen, der ebenso wie Premier Ghannouchi ein langjähriger Gefolgsmann des Ex-Diktators war. Mebazaa soll nun Neuwahlen vorbereiten.

 

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