Selfie war letztes Lebenszeichen

Trauer um polnischen Lkw-Fahrer

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Der Chef der Spediteursfirma trauert um seinen getöteten Cousin.

 Sobiesmysl ist ein kleiner polnischer Ort bei Stettin (Szczecin) unweit der deutschen Grenze. Von hier aus sind es knapp zwei Autostunden zum Breitscheidplatz im Herzen Berlins.

   Eine schmale Straße führt zu dem Dorf, 300 Meter vor dem Ortseingang parkt ein Polizeiauto. Vier in die Jahre gekommene Plattenbauten stehen auf der einen Straßenseite, gegenüber steht ein weißverputztes Eigenheim auf einem mit Tannen umzäunten Grundstück. Das Haus - das mit Abstand schönste im Dorf - gehört dem Spediteur Ariel Zurawski, der seit dem Anschlag mit einem seiner Lastwagen am Montagabend auf einen Berliner Weihnachtsmarkt schlagartig in die Öffentlichkeit gerückt ist.

   Man sieht, dass Zurawski kein Auge zugemacht hat. Noch in der Nacht muss er auf die Polizeistation in Gryfino, um seinen in Berlin erschossenen Cousin auf Fotos zu identifizieren. "Es war mit Sicherheit zu sehen, dass er gekämpft hatte", beschreibt Zurawski das drastische Polizeifoto. "Es waren Stichwunden zu sehen." Was genau in dem Führerhaus des Lkw passiert ist, gibt der Berliner Polizei allerdings noch Rätsel auf. Klar ist mittlerweile nur, Zurawskis Cousin wird Opfer eines Terroristen.

   Seit der Früh stehen Journalisten vor Zurawskis Grundstück und warten, dass der Spediteur Details von seinem Verwandten erzählt, der mit dem Lastwagen Stahlkonstruktionen nach Berlin gebracht hatte.

   Zurawski wirkt gefasst, als er von den Ereignissen berichtet. Geahnt hatte er nichts Gutes: Schon am Nachmittag sei sein Cousin nicht erreichbar gewesen. "Als ich die Nachricht bekam, dass mein Wagen abends durch Berlin gefahren ist, habe ich gewusst, dass etwas Schlimmes passiert sein muss", erzählt der Spediteur, dem insgesamt acht Lastwagen gehören. Eigentlich sollte sein Fahrer zu diesem Zeitpunkt pausieren.

   Über seinen Cousin findet Zurawski nur gute Worte: Er sei ein gewissenhafter Fahrer und ein guter Mensch gewesen. "Wenn er am Samstag zwei Bier getrunken hat, ist er am Sonntag nicht in den Wagen gestiegen." Die Familie ist erschüttert. Der Vater seines Cousins musste noch am Abend ins Krankenhaus eingeliefert werden, dort erhält er starke Beruhigungsmittel, wie Zurawski erzählt. Sein Cousin hinterlässt einen 17-jährigen Sohn und eine Frau. Dann zeigt er den Journalisten ein Selfie seines Cousins auf dem Handy, das nur wenige Stunden vor dessen Tod in einem Berliner Bistro aufgenommen worden sein soll. Zurawski schluckt.

   Nicht nur der Spediteur ist erschüttert über den Anschlag. In Sobiesmysl ist das Unglück in der deutschen Hauptstadt Dorfgespräch. Barbara und Kazimir Matuk leben im Plattenbau gegenüber von Zurawskis Haus. Am Montagabend, als sie die ersten Nachrichten und Bilder im Fernsehen und Internet sahen, dachten sie im ersten Moment, es sei ihr Sohn Slawomir.

   Der 34-Jährige arbeitet ebenfalls bei Zurawski und war am Montag mit einem ähnlichen Lastwagen in Berlin. Die Familie durchlebte bange Momente der Ungewissheit, bis sich ihr Sohn wohlbehalten per Telefon meldete: "Es war wie russisches Roulette", berichtet Barbara Matuk. Es hätte auch Slawomir sein können.
 

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