Gewaltausbruch

Jetzt schlägt die Stunde der Banden

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Häftlinge sind auf freiem Fuß, Kriminelle organisieren sich und versetzen die Bevölkerung in Angst und Schrecken.

Sie sind die einzigen, die von dem schweren Erdbeben auf Haiti profitiert haben. Die schwer bewaffneten Bandenmitglieder, die über Haitis größtes Elendsviertel Cite Soleil einst wie Kriegsherren herrschten, sind mit aller Macht zurückgekehrt. Bewaffnet mit Pistolen und Sturmgewehren jagen sie auf ihren Motorrädern durch die engen Gassen des Slums und versetzen die ohnehin traumatisierten Bewohner in Angst und Schrecken.

"Sie sind aus dem Gefängnis ausgebrochen und nun laufen sie herum und versuchen, die Leute auszurauben", sagt die 34-jährige Elgin St. Louis, eine von mehr als 300.000 Bewohnern des Elendsviertels. "Vergangene Nacht haben sie die ganze Nacht lang geschossen." Viele der 3.000 Insassen, die nach dem Beben aus dem Gefängnis in der Hauptstadt Port-au-Prince ausbrachen, sind brutale Verbrecher mit Verbindungen zu dem Armenviertel mit dem sarkastisch wirkenden Namen "Sonnenstadt", das lange als bedrückendes Symbol des bitterarmen Landes galt. "Es ist völlig logisch, dass sie hierher zurückkommen", sagt ein Polizist in dem undurchschaubaren Labyrinth aus Hütten, Gassen und offenen Kanälen. "Dies war immer ihre Hochburg."

Ministerium angezündet?
Es gibt Gerüchte, wonach Bandenmitglieder Samstag früh das eingestürzte Justizministerium angezündet haben, um jegliche Unterlagen über ihre Inhaftierung und ihre kriminelle Vergangenheit zu vernichten. Auch in der verlassenen Justizvollzugsanstalt haben die Insassen keine Spuren hinterlassen. In dem nur leicht beschädigten Gebäude sind auch keine Leichen zu sehen. Das einzige Lebenszeichen sind zwei Hunde, die es sich in einer Zelle zwischen alten Matratzen bequem gemacht haben.

Sollte zu dem Chaos und den Plünderungen in Port-au-Prince nun auch noch ein massiver Anstieg der Gewalt durch kriminelle Banden kommen, könnte die Wiederherstellung der Ordnung in der Hauptstadt Haitis zu einer echten Herausforderung werden. "Uns graut vor ihrer Rückkehr", sagt ein junger Slum-Bewohner namens Forrestal Champlain. "Sie sind bewaffnet, sie haben keine Moral und sie könnten alles Mögliche tun."

Die überwiegend aus Betonblöcken errichteten Häuser des Armenviertels weisen immer noch zahlreiche Einschusslöcher auf. Sie künden von den erbitterten Kämpfen zwischen den Banden und den UN-Soldaten, die seit 2004 im Land sind und Präsident Rene Preval nach seinem Amtsantritt 2006 halfen, die Kontrolle über Cite Soleil zu erlangen. Der Rückgang der Gewalt in dem Armenviertel war eines der wenigen und unumstrittenen Verdienste des Staatschefs. Diese Errungenschaft ist nun ernsthaft gefährdet. Ein Bewohner fasst die Lage so zusammen: "Preval hat hier nicht das Sagen. Niemand hat hier was zu sagen außer den Bandenbossen."

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