Moskau

Operngläser schaffen Privilegien

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Wer sich an der Oper in Moskau ein Opernglas ausborgt, erhält ein Privileg: Er braucht nicht auf seinen Mantel warten.

"Das Theater beginnt an der Garderobe", sagt eine russische Künstlerweisheit. Allabendlich wird in Moskau auf Dutzenden Bühnen gespielt - Oper, Ballett, Theater, Konzerte. Die russische Hauptstadt bietet Kultur auf Weltniveau, und in den Feiertagen um Neujahr ist das Programm besonders reich. Das Bolschoi-Theater lädt zum "Nussknacker", im Konservatorium erklingt russische Symphonik, im Tschaikowski-Konzertsaal gibt es mitreißenden Jazz. Das Moskauer Publikum ist sachkundig, interessiert, begeisterungsfähig - doch es folgt im Theater seiner ganz eigenen Etikette.

Privileg durch Operngläser
"Wollen sie ein Opernglas?" fragen Moskauer Garderobenfrauen jeden Gast. Nur Unkundige machen die Entscheidung von der Nähe ihres Sitzplatzes zur Bühne abhängig. Das geliehene Opernglas, auf Russisch "Binokel", gibt einem das Recht, nach der Aufführung den Mantel an der Warteschlange vorbei zu erhalten. Die Garderobenfrauen im Pensionsalter verdienen sich mit der kleinen Gefälligkeit ein Zubrot von 20 bis 50 Rubel (1,50 Euro).

Verschärfte Sicherheitskontrollen
Seit sowjetischen Zeiten sind Moskauer Abendveranstaltungen auf arbeitnehmerfreundliche 19.00 Uhr angesetzt. Allerdings sind die Zuschauersäle um diese Zeit erst zur Hälfte besetzt. Ein richtiger Moskauer kommt zum dritten Gong. Seit der Geiselnahme im Musical-Theater "Nordost" 2002 finden beim Einlass überall Sicherheitskontrollen statt. Das zusätzliche Schlangestehen vor den Metalldetektoren plant indes kaum jemand ein, so dass die Dirigenten den Stab meist mit einer Viertelstunde Verspätung heben.

Musik auf der Bühne ist auch noch kein Grund für Ruhe im Saal. Mit Erlöschen des Lichts versucht das Publikum, auf bessere Plätze vorzurücken: Man kann es ja mal versuchen. Tauchen im Halbdunkel die tatsächlichen Platzinhaber auf, beginnt eine Rücktauschaktion wie im Loriot-Sketch.

Handys klingeln zwischendurch
Von der obligatorischen Bitte um Ausschalten der Handys fühlt sich ein richtiger Moskauer nicht angesprochen. Also klingelt es, und zwar die ganze Vorstellung hindurch. Als besonders vergesslich gilt das Publikum im schicken Internationalen Haus der Musik. Aber auch im Moskauer Künstlertheater MChaT haben Zuschauer in der zweiten Hälfte von Tschechows "Möwe" schon 15 Anrufe gezählt. In der Pause labt sich das Publikum an klassischer Theaterkost: "Buterbrody" mit Lachs oder Käse, dazu Sekt oder Mineralwasser.

"Musiker ernähren sich von Applaus. Bitte füttern Sie uns reichlich!", fordert der Jazztrompeter Waleri Ponomarjow, und die Zuhörer im Oval des Tschaikowsky-Konzertsaals folgen ihm gern. Während der Aufführungen spendet das russische Publikum kräftigen Beifall. Ballettabende im Bolschoi kommen oft kaum von der Stelle, weil jede Einzelleistung beklatscht wird. Claqueure unterbrechen den Handlungsfluss mit bellenden "Bravo"-Rufen.

Mit dem Opernglas zur Garderobe
Doch die Begeisterung dauert nur bis zum letzten Akkord. Wenn der Vorhang fällt, springt das Moskauer Publikum wie ein Mann auf und eilt zur Garderobe. Der Schlussapplaus für Schauspieler, Sänger und Musiker fällt für den westlichen Geschmack unhöflich kurz aus. Den meisten Zuhörern ist es wichtiger, als erste in der Schlange nach den Mänteln anzustehen. Schade, so verpassen sie, dass Dirigent Juri Simonow im Konservatorium sein Orchester noch durch den Strauß-Walzer "An der schönen blauen Donau" als schmissige Zugabe treibt.

Wenn der Rückstau vor der Theatergarderobe am dicksten ist, schlägt die Stunde der geliehenen Operngläser. Man drängelt mit dem "Binokel" vor, und tatsächlich: An allen anderen Konzertbesuchern vorbei erhält man gegen dieses Pfand seinen Mantel zurück.

Keine Privilegien an der Oper Wien
Diesen Vorteil gibt es an der Staatsoper Wien nicht. Zwar ist die Garderobe seit Jahresbeginn nicht mehr kostenpflichtig, aber ein Opernglas befreit den Besucher nicht von dem Schlangestehen. Gegenüber oe24.at bestätigte die Staatsoper Wien, dass ein solches Recht wie in Moskau nicht bestünde.

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