Türkei

Kopftuch-Urteil löst politisches Erdbeben aus

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Einen Tag nach der Niederlage der türkischen Regierung im Kopftuchstreit hat Ministerpräsident Erdogan ein Krisentreffen einberufen.

Der Türkei droht nach der Niederlage, die der Verfassungsgerichtshof der islamisch-konservativen Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan im Kopftuchstreit zugefügt hat, eine innenpolitische Krise. Erdogan versammelte am Freitag die Führung seiner Regierungspartei AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) zu einer Dringlichkeitssitzung, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Als eine der Optionen sollten vorgezogene Parlamentswahlen auf den Tisch kommen, berichteten türkische Fernsehsender. Der Premier ließ eine Reise zum EM-Eröffnungsspiel der Türkei am Samstag in der Schweiz absagen.

Am Vortag hatte das Verfassungsgericht in Ankara die von der AKP-Parlamentsmehrheit beschlossene Freigabe des Kopftuches an Hochschulen als verfassungswidrig aufgehoben. Zeitungskommentatoren schrieben, die Entscheidung der Höchstrichter sei auch ein Hinweis auf ein zu erwartendes AKP-Verbot. Gegen die Regierungspartei, die bei der Parlamentswahl im vergangenen Jahr 47 Prozent der Stimmen bekommen hatte, läuft ein Verbotsantrag mit der Begründung, dass sie islamistische Pläne verfolgen würde.

Scharfe Kritik
Die AKP-Führung kritisierte scharf die Entscheidung der Verfassungsrichter, die mit neun gegen zwei Stimmen gefallen war. Fraktionsvizechef Bekir Bozdag sagte, das Gericht habe seine Befugnisse überschritten und die Verfassung gebrochen. Andere AKP-Politiker warfen den Richtern vor, eine politische Entscheidung getroffen zu haben, die einem "Putsch der Justiz" gleichkomme. Die Partei bereitet sich laut Medienberichten bereits auf die Gründung einer Nachfolgeorganisation vor.

"Dieses Urteil macht das (AKP-)Verbot sehr viel wahrscheinlicher", sagte der Türkei-Experte Gerald Knaus im ORF. Er sprach von einer Eskalation zwischen dem laizistischen und dem islamischen Lager in der Türkei, deren Demokratie möglicherweise noch im Sommer "auf eine große Krise" zusteuere. Die AKP zu verbieten sei "demokratiepolitisch absolut unmöglich", weil die Richter damit in weiten Landesteilen praktisch jede Stimme für ungültig erklären würden. Im Südosten und Osten der Türkei hätten die Bürger nämlich fast ausschließlich für die AKP gestimmt. Selbst Menschen, die der AKP skeptisch gegenüber stünden, würden in diesem Zusammenhang von einem "Putsch der Justiz" sprechen. Der Direktor der Berliner Forschungseinrichtung "European Stability Initiative" befürchtet, dass viele AKP-Anhänger im Fall eines Parteiverbots versuchen würden, ihre Interessen jenseits demokratischer Institutionen zu artikulieren.

EU mischt sich nicht ein
Die Generalstaatsanwaltschaft hatte den Mitte März beim Verfassungsgericht gestellten Verbotsantrag damit begründet, dass die AKP ein "Zentrum von Aktivitäten gegen den säkularen Staat" sei. Die AKP hatte das politische Erbe der vom Verfassungsgericht verbotenen islamischen Wohlfahrtspartei (Refah) des vom Militär zum Rücktritt gezwungenen und mit politischem Betätigungsverbot belegten ehemaligen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan angetreten. Nach dem Verbot der Wohlfahrtspartei wurde als deren Nachfolgerin zunächst die Tugendpartei gegründet, aus der wiederum die heute regierende Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei hervorging. Die türkische Armee, die als Hüterin der kemalistisch-laizistischen Grundprinzipien der Republik auftritt, hatte 1960, 1971, 1980 und 1997 in die Politik eingegriffen und zweimal - 1960 unter General Cemal Gürsel und 1980 unter General Kenan Evren - direkt die Macht übernommen. 1997 hatte das Militär den Rücktritt Erbakans erzwungen.

Für die EU-Kommission ist das Verfassungsurteil eine innere Angelegenheit der Türkei. Eine Sprecherin der Kommission wollte am Freitag in Brüssel nicht Stellung nehmen. Entscheidend für die Kommission sei, ob in der an einem EU-Beitritt interessierten Türkei die Grundfreiheiten respektiert und ob Entscheidungen in Übereinstimmung mit demokratischen Prinzipien getroffen würden. Nach Auffassung des FPÖ-Europaabgeordneten Andreas Mölzer bestätigt die Entscheidung des Verfassungsgerichts in Ankara, "wie groß die Gefahr einer Islamisierung der Türkei" sei. "Wie ein derart gespaltenes Land EU-Mitglied werden soll, ist völlig unverständlich. Um nicht selbst in den Strudel der türkischen Innenpolitik gerissen zu werden, muss die EU die Beitrittsgespräche mit Ankara sofort abbrechen", forderte Mölzer.

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