"Mission Mario"

Draghi geht in der EZB neue (Führungs-)Wege

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Notenbankchef: "Ich vertraue den Menschen, mit denen ich arbeite".

Mario Draghi hat sonntags gerne frei. Und das gönnt er auch seinen Mitarbeitern. Auch jenen, von denen man ob Amt und Salär zumindest in Krisenzeiten verlangen könnte, dass sie eine Sieben-Tage-Wochen klaglos schlucken. Unter Draghis Vorgänger auf dem Chefsessel der Europäischen Zentralbank (EZB) hatten dessen Top-Leute manchmal über Monate kein Wochenende. Jean-Claude Trichet kannte da kein Tabu und schonte auch sich selbst keine Sekunde.

Mit Draghi zog im November 2011 nicht nur ein neuer Präsident bei der EZB ein, sondern auch ein völlig anderer Stil. Wenig erinnert noch an die Tage des französischen Arbeitstiers und Mikromanagers, der stets alles bis ins kleinste Detail wissen wollte und sich kaum eine ruhige Minute gönnte.

Unter Mario Draghi, nach Wim Duisenberg und Trichet seit etwas mehr als einem Jahr dritter Präsident der EZB, hat sich die krisenerprobte und wetterfeste Zentralbank im Inneren so stark verändert, wie es wegen der draußen tobenden Krisenstürme wenige für möglich gehalten hätten: stundenlange Sitzungen, in denen ein allwissender Chef mehr referiert als zuhört, gehören der Vergangenheit an. Auch das Direktorium, der sechsköpfige Vorstand, der die Zentralbank leitet und die Entscheidungen des EZB-Rats in Sachen Geldpolitik umsetzt, scheint gerade wegen Draghis Zurückhaltung eine Art Renaissance zu erleben; und das, obwohl das Top-Gremium mit dem überraschenden Rücktritt des deutschen Chefvolkswirts Jürgen Stark just zu Beginn der Ära Draghi in seine tiefste Krise gestürzt war.

Draghi ist klar, was den Unterschied macht: "Ich vertraue den Menschen, mit denen ich arbeite. Ich delegiere. Und ich habe den Leuten hier gesagt, dass sie Entscheidungen treffen sollen." Für viele leitende Angestellte und langjährige Euro-Notenbanker sind diese Sätze unerhörtes Neuland, in das sie sich nolens volens vorwagen müssen, weil der Neue es so will. Waren sie bisher gewöhnt, alle Entscheidungen minutiös vorzubereiten und sich auf detaillierte Nachfragen "von oben" einzustellen, fordert Draghi von ihnen nun Problemlösungen, nicht mehr bloße Vorschläge. Einer von Trichets engsten Mitarbeitern, der auch noch unter Draghi arbeitete, bringt es auf den Punkt: "Trichet wollte alles wissen. Draghi will nur das Nötige wissen." Für das Personal bedeutet das mehr Freiheiten, aber zugleich steigt das Risiko, dass die Rädchen in der EZB - die in der Krise immer neue und immer mehr Aufgaben bekommt - nicht ganz reibungslos ineinandergreifen.

Sicherstellen soll das wiederum ein starkes Führungssextett - das Direktorium: das hat Draghi nach seinen Vorstellungen neu zugeschnitten. Eine notwendige Übung, war der Führungszirkel der Zentralbank nach Starks schlagzeilenträchtigem Abgang und noch einigen turnusmäßigen Wechseln doch arg ramponiert. Der 65 Jahre alte Römer brach als allererstes, nachdem er auf dem Chefsessel im 35. Stock des Frankfurter Euro-Towers Platz genommen hatte, mit einer Tradition aus frühen EZB-Tagen: Er betraute nicht mehr einen Deutschen mit der Leitung der volkswirtschaftlichen Abteilung, sondern - unter dem lauten Aufschrei deutscher Medien und vieler Politiker - den Belgier Peter Praet, einen erfahrenen Zentralbanker.

Für seinen engsten deutschen Mitstreiter im Direktorium fand Draghi nicht den von den Deutschen aus Tradition reklamierten, sondern eben den perfekten Job. Ex-Finanzstaatssekretär Jörg Asmussen, im Brüsseler Politikbetrieb und in den Hauptstädten Europas so gut verdrahtet wie kaum ein anderer, wurde Draghis "Außenminister". Auch für das neue französische Gesicht im EZB-Direktorium, den jungen, aber in Sachen der Finanzmärkte seit seiner Zeit beim französischen Pendant zur Bundesschuldenagentur mit allen Wassern gewaschenen Benoit Coeure, fand er die ideale Aufgabe: Er ist zuständig für die Versorgung des Finanzsystems mit dem Geld der Zentralbank. Last but not least werkeln mit Draghis Vize, dem Portugiesen Vitor Constancio, und dem Luxemburger Notenbank-Urgestein Yves Mersch zwei erfahrene Kämpen an Draghis neuem Großprojekt: die Aufsicht über Europas Banken unter das Dach der EZB zu holen.

Es funktioniert - das geben sogar langjährige Mitglieder des EZB-Rats zu, denen vor nicht allzu langer Zeit selbst Chancen auf einen der prestigeträchtigen Direktoriumssitze nachgesagt worden waren: "Das neue Team ist überraschend gut. Draghi hat die Aufgaben sehr weise verteilt", urteilt etwa Finnlands Zentralbankgouverneur Erkki Liikanen, der einen Vergleich zur Zeit von Trichet und dem alten Direktorium ziehen kann. Damals waren sich der Deutsche Jürgen Stark und Italiens Abgesandter Lorenzo Bini Smaghi in den allermeisten geldpolitischen Fragen alles andere als grün. Und von der für Zahlungsverkehrsthemen zuständigen Österreicherin Gertrude Tumpel-Gugerell war selbst am Bankenplatz Frankfurt so gut wie nie etwas zu hören.

Draghi verlangt von seinen Top-Leuten volle Präsenz - nur Vizepräsident Constancio, der schon unter Trichet eher glücklos agierte, blieb in den ersten Monaten der Ära Draghi farblos. Der Chef hingegen hat dank seines starken Führungsteams mehr Zeit für die zentralen strategischen Fragen - die Zukunft des Euro und für die eigentliche Königsdisziplin eines Notenbankers: "Ich denke, ich habe eine Überzeugung, wie man Geldpolitik betreibt", sagt er selbstbewusst und schiebt schnell nach: "Wenn ich 'ich' sage, dann meine ich eigentlich 'wir' - wir im EZB-Direktorium und im Rat." Das schließt - überraschend - seinen prominentesten Gegner ein: Bundesbank-Präsident Jens Weidmann. Der befindet sich - meist jedenfalls - in Fundamentalopposition zu dem Italiener.

Umso erstaunlicher ist es, dass ausgerechnet ein Deutscher zu den engsten Vertrauten Draghis gehört: Christian Thimann ist sein Chefberater, den er von Trichet "geerbt" hat, mit dem er gemeinsam Ideen entwickelt, diskutiert und Pläne schmiedet für die Zukunft der nach Überzeugung beider noch völlig unfertigen Währungsunion. Thimann, ein hochgewachsener blonder Ökonom mit weichen Zügen und sanfter Stimme, mag auf den ersten Blick nicht zu dem Bild passen, das viele Deutsche von Draghi und dessen engstem Kreis in der EZB haben. Geht man nach Umfragen, schlägt dem Italiener oft blankes Misstrauen entgegen. Thimann hingegen strahlt dieses Vertrauen aus und genau wie sein Chef eine fast schon unheimliche Ruhe. Er ist zugleich Draghis Seismograph für die deutschen Befindlichkeiten: dank informeller Kontakte zur Bundesbank, in die deutsche Finanzbranche und natürlich auch ganz einfach als Bürger eines Landes, in dem nicht wenige lieber heute als morgen den Euro wieder abschaffen und die D-Mark einführen würden.

Das Verhältnis zur deutschen Bundesbank ist und bleibt gestört. Vor allem Draghis Husarenstück sorgte dort für einen Aufschrei: die Ankündigung, theoretisch unbegrenzt die Anleihen überschuldeter Euro-Staaten aufzukaufen und dafür aus Sicht der Deutschen viel zu lasche Bedingungen zu stellen. Das Klima in Frankfurt ist seitdem beinahe vergiftet. Nach einem Vortrag an der Universität Frankfurt nahm Bundesbank-Chefjustiziar Bernd Krauskopf das deutsche EZB-Direktoriumsmitglied Jörg Asmussen öffentlich ins Kreuzverhör, ob die EZB wirklich bereit wäre, ihre Unterstützung einzustellen, wenn ein Land die Sparauflagen doch nicht erfüllen sollte. Der Umgangston unter distinguierten Notenbankern, die in der Öffentlichkeit zurückhaltend auftreten, sieht sonst eher anders aus. Draghis Kurs hat einen dicken Keil zwischen die beiden Notenbanken in Frankfurt getrieben, die sich seit dem Start der Währungsunion eigentlich noch nie so richtig über den Weg trauten.

Draghis Antwort auf Kritik und Misstrauen, die ihm schon vor seinem Umzug an den Main aus Deutschland und besonders von der Bundesbank entgegenschlugen, ist eine Kommunikationsoffensive. Im Oktober steht er in Berlin mehreren Bundestags-Ausschüssen Rede und Antwort und erklärt seine Politik. Viele Abgeordnete äußern sich nach der Fragestunde positiv über den Italiener, so wie CDU-Haushaltsexperte Norbert Barthle: "Seine Antworten waren sehr überzeugend." Gerhard Schick von den Grünen forderte von Draghi sogleich noch mehr Offenheit gegenüber dem Parlament. Nur wenig später folgt dessen nächster Streich: Er holt die deutsch-französische PR-Expertin Christine Graeff zur EZB. Sie soll seit Jahresbeginn dafür sorgen, dass Draghis Botschaften in allen 17 Euro-Ländern auch wirklich bei den Menschen ankommen - und nicht durch den Filter nationaler Regierungen und Zentralbanken in den lokalen Medien landen.

Draghi weiß um die Vorurteile vor allem in Deutschland, der größten und damit automatisch auch für die EZB bedeutendsten Volkswirtschaft in der Eurozone. Und er weiß, dass er dagegen nur mit der Macht des Wortes langfristig eine Chance hat. Zwar hält er viel weniger Reden als sein Vorgänger Trichet, doch die Worte, die er wählt, sind um einiges deutlicher, räumen sogar Kritiker ein. Und er spielt geschickt gerade mit der Nähe zur Politik, die seine Gegner an ihm so verteufeln. Ein Besuch im spanischen Parlament in den nächsten Wochen soll nach der wohl erfolgreichen "Mission Bundestag" der nächste Schritt sein. Denn Draghi will Klartext sprechen, wo sich sein Vorgänger in nebulösen Andeutungen und Code-Wörtern erging, die sich nur geldpolitisch Eingeweihten völlig erschlossen. "Es gehört zur Unabhängigkeit dazu, dass man erklärt. Wenn man unabhängig ist, dann muss man doppelt so transparent sein wie jeder andere."

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