Buchvorstellung

Das 1. Kapitel aus "Krebs" zum Nachlesen

Teilen

Werner Schneyders neues Buch "Krebs" - Das 1. Kapitel.

Das 1. Kapitel von Werner Schneyders berührendes Buch "Krebs" ist hier nachzulesen!

Werner Schneyders einfühlsame „Nacherzählung“ beginnt am Tag des Befundes – seine Frau hat Krebs:

„Wir sehen aus der Küche das Auto des Arztes kommen. Ich habe Krebs, sagt sie. Der Arzt wohnt eine Autostunde von unserem Haus und – wie ich immer sage – unserem See. Er hätte angerufen, wenn es nicht etwas zu sagen gäbe, was man einem nur ins Gesicht sagen kann. Habe ich Krebs?, fragt sie pro forma. Ja. Es ist ein ganz aggressiver Tumor, sagt der Arzt. Er heißt Rainer und ist ein Freund. Jetzt sagt er, der ihr so oft und oft das Rauchen verboten hat: Jetzt rauchst du erst einmal eine. Ja, sagt sie und saugt. Die Frage, ob dieser Rauch an allem Schuld trägt, stellt keiner. Wozu noch?

Es ist später Abend. Durch die breite Glastür des Wohnzimmers sehe ich hinter dem Balkon den nächtlichen See. Den See unserer vielen Sommer. Im Haus unserer Liebe zum See.“ Die Misere vieler Patienten beginnt bei der Architektur der Spitäler – sie sind inhumane „Heilfabriken“: „Die gigantische Universitätsklinik ist optisch, in ihrer Gliederung, in ihren logistischen Versuchen, Orientierungen herzustellen, eine völlig verunglückte Heilfabrik, der Inbegriff des Inhumanen. Ein Bahnhof, an dem Kranke in die Genesung anreisen und andere Kranke ab in den Tod. Wo die Fahrpläne Makulatur sind, weil die Züge kommen und fahren, wann sie wollen. In fernen Zeiten, wenn sich Medizinhistoriker mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts befassen, wird man dieses Gebäude, besser: die Gesinnung, die hinter seiner Planung stand, als Beweis für den Irrweg einer der doch menschen­nähesten Wissenschaften anführen.“

Der befreundete Arzt, er heißt im Buch Rainer, rät im speziellen Fall von einer Chemotherapie ab: „Der Karsamstag ist da. Wenn mich etwas nicht interessiert, dann ist es die Leidensgeschichte Christi. Ich faxe eine Änderung meiner Wilde-Bearbeitung weg. Noch einmal telefoniere ich ausführlich mit Rainer. Wieder rät er von der Chemotherapie in diesem Fall radikal ab. Der Professor muss ihm wohl ihren Status aktuell und ausführlich dargestellt haben. Rainer weiß, es sind nicht nur die Lymphknoten befallen. Die ganze Bauchhöhle ist voll von Metastasen. Das ist kein Karzinom, erfahre ich, sondern – ich höre ein mir neues Wort – eine Karzinose. Meine Laieninterpretation heißt: über und über verseucht. Es wird nicht widersprochen.“

Sowohl der Erzähler als auch die Patientin treffen eine Entscheidung – keine Chemo: „In der U-Bahn fasse ich den Entschluss, die Empfehlung des Arztfreundes zu meiner Anordnung zu machen: keine Chemo. Auf einmal glaube ich, ich darf es sagen. Ja, ich muss. Ich sage es ihr. Sie will den Grund wissen. Ich versuche die Aufrechnung mit Lebenserwartung, Lebensverlängerung und Lebensqualität. Wie groß ist die Lebenserwartung?, will sie wissen. Ich sage, ich weiß es nicht, lüge also, aber irgendwie doch nicht, denn was heißt denn hier: wissen? Und die Ärzte werden ihr, jedenfalls offiziell, keinen Zeitraum nennen. Ich sage, die Entscheidung kann nur deine sein. Ich muss dir nur sagen, was ich denke. Sie entwirft Szenarien der Termine, ihren Lebensstil als Patient. Sie sagt, ich mache keine Chemo. Dann weinen wir. Wange an Wange.“

Die „Medizin“ setzt sich durch. Ilse Schneyder beginnt mit einer Serie von Chemotherapien: „Die Nacht vor der dritten Anwendung der ersten Chemotherapie ist die Hölle. Irgendeinmal frage ich sie, ob ihr schlecht ist. Sie reagiert aggressiv. Sie findet die Frage berechtigterweise zu blöd. Ich verfüge, dass ich mit ihr zur Chemo fahre. Im Taxi hat sie Angst. Sie klammert sich an mich. Sie hat Angst vor dem, ja, Anscheißen. Erwartungsgemäß sagt der anwesende Oberarzt, wir werden Sie dabehalten. Zu mir sagt er: Wir werden alles tun, was in diesem Zustand nötig ist. Mich trifft sein geradezu kollegialer Blick. Er meint also Morphium, denke ich. Gott sei Dank.“Die Chemo stellt sich als „Folter“ heraus. Ohne Morphium sind die Schmerzen unerträglich: „Der nächste Morgen. Wimmern. Ächzen. Jaulen. Von allen Medikamenten nimmt sie Überdosen. Dann folgt ein Erschöpfungsschlaf mit leisen Schmerzlauten. Warum gibt man ihr kein Morphium? Die Recherche ergibt, sie hat es ja. Aber dann kann doch die Dosis nicht reichen. Soll ich mich einmengen, wegen der Dosis? Soll ich mit den Ärzten reden? Sie ist doch noch Herrin ihrer selbst. Sie will es doch noch selbst sagen können.“

Zwischen den Erzählpassagen stellt der Autor grundsätzlich Kritisches zum medizinischen „System“ fest: „Die Medizin erstickt sich ab einem gewissen Zeitpunkt selbst. Jeder für irgendetwas zuständige Arzt verordnet lege artis einen Wirkstoff. Das gilt vom Papst bis zum Mesner. Wie sich diese Wirkstoffe aufheben oder wechselseitig gefährlich machen, kann keiner mehr überblicken. Die Leute sind – in bester Absicht – verantwortungsimmun.“ Im konkreten Fall hatte die künstliche Lebensverlängerung den Effekt einer Persönlichkeits-Demontage:

„Wieder eine Irrsinnsnacht. Noch und noch Fehlalarme. Dann das Anscheißen. Sie bricht zusammen. Diese Würdelosigkeit!, sagt sie. Mehrfach sagt sie es. Das ist das Wort, von dem ich mit dem Prof. Lasker gesprochen hatte, als es um Chemo oder nicht ging. Ich hatte ihm gesagt, das Schlimmste, was man ihr antun kann, ist eine Lebensverlängerung mit Würdeverlust. Aber Würde ist keine medizinische Kategorie.“

Die Entscheidung zur Chemo war falsch – statt „hinüberzugleiten“ hat die Patientin gelitten: „Wenn die Annahme, Ende Februar oder Anfang März, es wird sich nur mehr um vier, fünf Monate handeln, gestimmt hat, dann hat diese Chemotherapie ihr Leben um maximal drei Monate verlängert. Die Frage, ob dieses von mir deshalb so genau geschilderte Übermaß an Leiden dadurch gerechtfertigt war, muss gestellt sein. Man kann einwenden, sie hat noch einen letzten ihrer geliebten Sommer am See erleben dürfen. Ich sage: erlitten. Hätte sie von Beginn der Schmerzen aufgrund des zunächst nicht erkannten, ja nicht einmal gesuchten Rezidivs hinreichend Narkotika anwenden dürfen, wäre sie am Ufer ihres Sees, so wie später in der Wohnung, friedlich hinübergeglitten. “Werner Schneyders Buch wird Zustimmung und Ablehnung erfahren. Das ist dem Autor bewusst: „Wenn es denn möglich sein sollte, dass man von diesem Planeten einen Nachgeschmack mitnehmen kann, dann wäre die Erinnerung an den ersten Sommer nach der Blasenkrebsoperation eine gute. Die Prothese, in Relation zur dadurch geschenkten Lebenszeit, hatte Sinn. Der Umgang mit dem mörderischen Rezidiv wohl nicht.

Ich habe viel von mir berichtet, um die Berechtigung nachzuweisen, meine Meinung zu haben. Man wird Gegenbeispiele nennen. Die sind für ihr Schicksal nicht beweiskräftig. Wenn Medizin genormt ist, wenn sie auf den Einzelfall nicht eingehen mag, läuft sie Gefahr, das Gegenteil dessen zu sein, was sie sein will: human.“

Fehler im Artikel gefunden? Jetzt melden.