Gesellschaftsroman

Das Grauen hinter der harmlosen Dorf-Idylle

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Die deutsche Autorin Juli Zeh schrieb einen klugen Gesellschaftsroman.

Durch Unterleuten kann man im Internet spazieren. Doch unter Leute kommt man dabei nicht: Über 30 Charaktere des Romans Unterleuten von Juli Zeh sind mit Kurzbiografie und Wohnort-Lageplan in dem vom Luchterhand Verlag initiierten Web-Auftritt des Buches verzeichnet. Ein Bild von ihnen kann man sich nicht machen. Dazu braucht es Fantasie und die Lektüre des 640-Seiten-Wälzers. Sie lohnt sich.

Bereits mit Debütroman in 1. Reihe angekommen
Seit der Ankündigung der vielfach ausgezeichneten Autorin, die sich bereits mit ihrem Debütroman Adler und Engel in die erste Reihe der deutschen Gegenwartsliteratur geschrieben hatte, mit Unterleuten in zehnjähriger Arbeit jenen Gesellschaftsroman geschrieben zu haben, der ihr stets als „literarische Königsdisziplin“ erschienen war, waren die Erwartungen groß. Die Jury des Deutschen Buchpreises liebt Gesellschaftsromane.

Zeh ist tatsächlich aufs Ganze gegangen. In aller epischen Breite stellt sie zunächst die Bewohner eines Dorfes in der brandenburgischen Provinz vor, widmet ihnen von den Alt-Eingesessenen bis zu den frisch Zugezogenen, die entweder nach Berlin pendeln oder am Land endgültig Zuflucht vor der Großstadt suchen, jeweils ein Kapitel und beginnt ganz unmerklich, die einzelnen Fäden miteinander zu verknüpfen.

Wie das Geflecht immer dichter wird, unterschiedliche Interessenlagen deutlich werden und auch die schmerzhafte Geschichte des ehemals in der DDR gelegenen Dorfes sich allmählich aus der vermeintlichen ruralen Idylle schält, das ist feinstes Schreib-Handwerk.

Pferdefrau. Die Figuren interessieren – von der hoch motivierten „Pferdefrau“, die um die Verwirklichung ihres Lebenstraums einer Pferdezucht kämpft, über den fanatischen Vogelschützer, der seinen Kampf gegen das globale Böse bis nach Unterleuten trägt, bis zum Mechaniker mit üblem Leumund, der seinen Nachbarn mittels brennender Autoreifen an der Grundstücksgrenze die gute Landluft verpestet.

Assoziationen zu Mafia & Stasi drängen sich auf
Nicht nur diese Sache stinkt zum Himmel. Denn mit der Zeit wird klar, dass das dichte, dörfliche Netzwerk aus Gefälligkeiten, Leistungen und Gegenleistungen nicht bloß ein auf Tauschhandel basierendes wirtschaftliches Gegenmodell zum bösen Kapitalismus-Moloch und der Nachrichten wie ein Lauffeuer verbreitende „Dorffunk“ nicht bloß Gerüchtebörse und Informationskanal ist. Früher oder später drängen sich Assoziationen an Mafia und Stasi auf.

Räuberbande. Geschickt lässt Zeh die Dinge kippen und ein Machtgefüge entstehen, dessen historisch gewachsene Abhängigkeiten für die Neuzügler kaum zu durchschauen sind. Die Folge sind Missverständnisse und Fehlinterpretationen, die aus an sich fast harmlosen Dorfbewohnern eine Räuberbande machen und auch in Vorzeigebürgern kriminelle Energien freilegen.

Als dann ein Windpark errichtet werden soll, der dem schwer verschuldeten Dorf Steuereinnahmen bringen würde, beginnt ein neuer Kampf, in dem auch die „Neuen“ bei der Wahl der Waffen nicht zimperlich sind.

„Es geht nicht nur um ein Dorf, in dem der Plan, Windkraftanlagen zu errichten, die Bewohner gegeneinander aufbringt“, sagt Zeh. „Es geht auch um die großen Fragen unserer Zeit. Gibt es im 21. Jahrhundert noch eine Moral jenseits des persönlichen Eigeninteresses? Wie kommt es, dass alle immer nur das Beste wollen, und am Ende trotzdem schreckliche Dinge passieren?“

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