Teil 6

Teil 6: Nataschas Weg in ein neues Leben

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„Verzweifelte Jahre“. Die erste Kritik des Buches von Brigitta Sirny-Kampusch, Mutter von Natascha Kampusch. Teil 6: Nataschas Weg in ein neues Leben.

Brigitta Sirny-Kampusch, die Mutter von Natascha Kampusch, hat am Dienstag ihr Buch über die Jahre der Entführung ihrer Tochter vorgestellt. Die 57-jährige Wienerin hat sich darin ihr Leid von der Seele geschrieben.

Lesen Sie hier die erste Kritik des neuen Buches: Teil 6

Brigitta Sirny-Kampusch beschreibt Nataschas neues Leben – dass meist ohne die Mutter abläuft. Sirny wundert sich über die medizinische Betreuung, den Umgang mit Geld, Anwälte und Ärzte.

Natascha will mich sehen
Plötzlich ist Natascha am Telefon, nach fünf Tagen. Ihre Betreuer wissen davon offenbar nichts. Ich möchte so gern bei dir sein, sagt sie. Leg dir ein Gipsbein zu, dann kannst du dich mit der Rettung herführen lassen... Wir unterhalten uns ein paar Minuten...Ich rufe die Anwältin an.
"Pinterits".""Natascha will mich sehen".
"Woher wollen sie das wissen?"
"Sie hat mich gerade angerufen. Ich will zu ihr, jetzt".

Geheimes Treffen
Von da an darf Brigitta Sirny ihre Tochter täglich sehen. Sie ruft in der Früh an, fragt, wann sie zu ihr kann. Über unterirdische Gänge wird sie geheim zu ihrer Tochter geschleust. Natascha liegt im Wiener AKH in einem Zweibettzimmer (Das andere Bett ist belegt. Ich mache kein Thema daraus. Ich denke mir meinen Teil). Bei Psychiater Max Friedrich läuft sie aus ihrer Sicht unter der Wahrnehmungsschwelle. Täglich kommt er vorbei, der Herr Professor, mit mir redet er kaum. Jedes Mal, bevor er auftaucht, ist es, als käme Wind auf am Gang. Alles fegt auseinander, Platz für Max Friedrich. Es scheint, als hätte er längst die Vormundschaft über meine Tochter übernommen.

Die Mutter wundert sich über die Betreuung. Medizinisch war allerdings nicht viel los. Nach allem, was man mir gesagt hat, habe ich angenommen, dass sie auf Herz und Nieren durchgecheckt wird. Ich habe mich geirrt. Einmal haben sie ihr Blut abgenommen.

Leben als U-Boot
Die Gespräche zwischen Mutter und Tochter bleiben an der Oberfläche. Zumindest liest es sich im Buch so. Man spricht über die Beatles, manchmal korrigiert die Tochter die Mutter bei der Grammatik. Natascha lebt im Verborgenen, hat aber schon ein fünfköpfiges Beraterteam, wie Sirny spöttisch anmerkt. Ein Anwalt geht, eine andere Kanzlei übernimmt, Lansky und Ganzger. "Sie ist eine der drei Topmandate in meinem Leben", sagt Gabriel Lansky. Sein Kompagnon heißt Gerald Ganzger, die zwei sind Wirtschaftsanwälte, fünfundfünfzig Mitarbeiter. Was braucht sie einen Wirtschaftsanwalt, frage ich mich.

Dann, das erste TV-Interview. Natascha wirkt stark, überrascht alle mit ihrem Wissen, ihrer gepflegten Sprache. Brigitta Sirny sitzt daheim vor dem Fernseher. Sie ist stolz. Wenig später gibt es eine Besprechung in der Kanzlei von Lansky & Ganzger. Nataschas Zukunft soll besprochen werden. Die Anwälte sind höflich, aber es scheint mir, sie lassen uns im Unklaren, dass wir der lästigste Eintrag in ihrem Kalender sind. Natascha sei achtzehn, belehrt uns Herr Lansky. Sie könne ihre Entscheidungen allein treffen. Aha, denke ich, betrifft das auch Verwaltung ihres Geldes? Weiß sie, wie viel das ORF-Interview eingebracht hat? Natascha stehen Einnahmen aus den Verkäufen der Auslandsrechte zu. Hat sie Zugriff auf die Summe?

Brigitta Sirny schweigt, trifft Natascha weiter im Spital, das Verhältnis zu Psychiater Friedrich wird immer gespannter (es sieht immer mehr danach aus, als hätte er Natascha geboren). Eines Tages will Natascha aus dem Spital. Seine Erwiderung fährt mir durch Mark und Bein. Wenn du jetzt gehst, sagte der Herr Professor, dann brauchst du nie mehr zu mir zu kommen.

Nataschas neues Leben
Am 29. September 2006 darf Natascha die Station im AKH verlassen, zieht in eine Fünfunddreißig-Quadratmeter-Garconniere im Schwesternheim des Krankenhauses. Schön, dass du da bist, Mama, sagt Natascha und öffnet mir die Tür wie zu einer Suite. Die beiden plaudern lange. Als die Mutter gehen will, sind ihre Stiefel weg. Natascha hat sie versteckt. Du gehst nicht, ich lasse dich hier nicht mehr raus, jetzt bleibst du da.

Erster Geburtstag in Freiheit
Einige Zeit später zieht Natascha aus dem Schwesternzimmer aus – in ihre erste eigene Wohnung. Sehr edel, groß, denkt sich Sirny beim ersten Besuch. Daheim wäscht sie die Kleidungsstücke ihrer Tochter aus dem Verlies, denkt über Natascha nach. Oft kommt sie mir vor wie eine Blinde, die plötzlich sehen kann. Mutter und Tochter verbringen Zeit miteinander, ob es viel ist, lässt sich nur erahnen, denn das Buch verrät darüber wenig. Eine gemeinsame Autofahrt, Besuch in der Pizzeria, Starmania, ein Ambros-Konzert, eine Geburtstagsparty, die Brigitta Sirny für ihre Tochter organisiert. Freunde, Bekannte sind eingeladen, aus der Schulzeit von Natascha vor allem. Dreißig Leute, nicht einfach für sie. Aber es sind keine Fremden. Und alle Gesichter sind fröhlich. Sie lächelt in die Runde. Im Chor singen wir Happy Birthday. Sie wird noch verlegener. Alle setzen sich. Sie kommt auf mich und den Koch zu und umarmt uns.

Hoffnung auf normales Leben
Das Buch endet in einem Epilog. Natascha und ihrer Mutter in einer Lichterlgrotte. Ein Jahr ist sie jetzt beinahe wieder da. Noch einmal so lange wie die schreckliche Zeit im Verlies wird es dauern. Bis sie das Gröbste hinter sich hat, denke ich. Natascha zündet eine Kerze an, stellt sich zu den Touristen. Keiner erkennt sie. Für sie muss es wie das Paradies sein.

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