Wiener Volkstheater

"Woyzeck": Am Rande des Abgrunds

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Schottenberg gelingt eine berückende Adaption des Wilson/Waits-Klassikers.

Woyzecks Leben ist der letzte Dreck - und folgerichtig siedelt ihn Michael Schottenberg im Dreck an: Sein "Woyzeck", dessen Premiere am 22. November im Wiener Volkstheater umjubelt wurde, ist wild, roh und so ungeschliffen wie Georg Büchners Vorlage. Dem Hausherrn gelingt bravourös das Vabanquespiel, das legendäre Musiktheaterprojekt von Robert Wilson und Tom Waits gegen den Strich zu bürsten.

Dritte Zusammenarbeit von Theatermagier Wilson mit Waits 
Der 2000 in Kopenhagen uraufgeführte "Woyzeck" stellte nach "Black Rider" und "Alice" die dritte Zusammenarbeit von Theatermagier Wilson mit Waits dar, der mit seiner Frau Kathleen Brennan die kraftvoll-fulminante Bühnenmusik komponierte. Die Wiener Inszenierung hat mit Wilsons buntem Minimalismus samt stilisierter Charaktere allerdings so viel gemein wie Extrawurstaufschnitt mit Lachscarpaccio. Schottenberg erdet die Protagonisten wieder, wandelt sie von Figuren zu menschlichen Wesen.

Woyzeck und das Leben am Ende  

Der zum Versuchsobjekt und letztlich zum Ding degradierte Woyzeck wird selten in solch erbärmlicher Hilflosigkeit gezeigt wie in der gepeinigten Ausgestaltung durch Haymon Maria Buttinger. Er ist letztlich zum kleinen Stück Dreck herabgetreten worden, das sein letztes Stückchen Glück in der geliebten Marie (einer ätherischen Hanna Binder) sucht. Aber auch dieser letzte Anker hält die im Sturm des Lebens gepeitschte Barkasse nicht mehr, sondern sie wendet sich dem Tambourmajor zu. Bar jeder Hoffnung angesichts der Unabänderlichkeit der gesellschaftlichen Drangsal wird Woyzeck zum Verbrecher. Der Mord an Marie ist hier kein Befreiungsschlag, kein Aufschrei der misshandelten Kreatur - er ist letztlich so armselig wie Woyzecks gesamte Existenz.

Leben voller Fallstricke  

Diese Schussfahrt in den Abgrund ist zwischen drei kahlen Wänden positioniert, vor denen sich der Dreck türmt. Ebenso postapokalyptisch wie archaisch finden sich die Getriebenen in einem Leben voller Fallstricke, die hier als Falltüren daherkommen und allerorten unvermittelt aufspringen oder als Abgangsmöglichkeit dienen. Mit deren Hilfe bewerkstelligen Schottenberg, sein Bühnenbildner Hans Kudlich und die auch für die Choreografie zuständige Susa Meyer einen höchst dynamischen Wechsel der fragmentarischen Büchner-Szenen. Waits' emotional wuchtige Musik spielt dabei die ambivalente Doppelrolle, einerseits die Drastik der Geschichte zu konterkarieren und als Störmoment das Spiel zu brechen. Andererseits verleiht sie stets im passenden Moment den Charakteren jene emotionale Färbung, die sie selbst nicht verbalisieren können. Diese ebenso grobschlächtigen wie anrührenden Songs wurden nicht nur von der Band unter Leitung von Imre Lichtenberger-Bozoki mit beinahe exzessiver Energie gespielt, sondern auch vom restlichen Ensemble abseits der beiden Hauptdarsteller bravourös interpretiert. Thomas Kampers Hauptmann ist ein überspannter Popanz, während Ronald Kuste als Doktor nicht nur optisch an Leonard Cohen erinnert und Susa Meyer als devastierte Margreth zwar kaum zu erkennen ist, jedoch als veritable Rockröhre überrascht. Einzig Christoph F. Krutzler beeindruckte mehr mit mächtiger Körperlichkeit denn mit mächtiger Stimme.

Fazit
Das Volkstheater schafft mit seinem "Woyzeck" rohes, ehrliches und zutiefst anrührendes Theater, das einige Zuschauer ungeachtet der mit eineinhalb Stunden überschaubaren Länge aus dem Theatersaal trieb. Die Verbliebenen zeigten sich dafür umso begeisterter.

(Von Martin Fichter-Wöß/APA)

Info
"Woyzeck" von Robert Wilson und Tom Waits/Kathleen Brennan nach dem Fragment von Georg Büchner am Volkstheater, Neustiftgasse 1, 1070 Wien. Regie: Michael Schottenberg, Musikalische Leitung: Imre Lichtenberger-Bozoki, Bühne: Hans Kudlich, Kostüme: Erika Navas. Mit Haymon Maria Buttinger (Woyzeck), Hanna Binder (Marie), Susa Meyer (Margreth), Thomas Kamper (Hauptmann), Ronald Kuste (Doktor), Matthias Mamedof (Karl), Christoph F. Krutzler (Tambourmajor), Tany Gabriel (Andres), Thomas Bauer (Ausrufer). Weitere Aufführungen am 25. November sowie am 10., 13., 19., 22., 28. und 29. Dezember. Karten: 01 / 52111-400, www.volkstheater.at

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