Meinung

Gerichtspsychiater Haller zum Natascha-Hype

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"Gut, dass sich die Leute interessieren"

ÖSTERREICH: Wie ist es, nur in den Medien aufzutauchen, wenn es ein Verbrechen gibt?
Haller: Ein bisschen komisch. Aber ich bin eben kein berühmter Sportler oder Dichter. Dafür habe ich die Psyche von rund 170 Mördern untersucht.

ÖSTERREICH: Wie haben Sie vom Fall Kampusch erfahren?
Haller: Im Teletext. Am nächsten Tag ist bereits mein Telefon heißgelaufen, vor allem Journalisten waren dran.

ÖSTERREICH: Und haben Sie über den Täter befragt?
Haller: Ja. Wir unterscheiden zwei Typen von Sexualtätern im weitesten Sinne: Den angespannten, impulsiven Typen. Seine Opfer überleben die ersten 48 Stunden zu mehr als 50 Prozent nicht. Und den zweiten Typen, zu dem WolfgangPriklopil gehört. Er agiert ruhig und organisiert, getrieben von krankhaftem Machtanspruch, mit gestörtem Beziehungsbild. Im Alltag ein kauziger Sonderling, eine der berühmten „grauen Mäuse.“.

ÖSTERREICH: Hätten Sie ihn gerne kennen gelernt?
Haller: Das soll jetzt nicht nach Trophäenjagd klingen. Aber, ja, natürlich. Genauso wie ein Krebsforscher den neuen Krebs studieren will, den er entdeckt hat

ÖSTERREICH: Was würde Sie als Erstes interessieren?
Haller: Ich würde auf mein Feeling, den ersten Eindruck achten. Und dann handwerklich saubere Psycho-Tests durchführen, um etwas über seine Motive zu erfahren.

ÖSTERREICH: Ist Wolfgang Priklopil ein Monster?
Haller: In Wahrheit trägt jeder Mensch ein kriminelles Wesen in sich. Anteile, die mehr oder weniger gut bewältigt werden. Wir können vom Fall Natascha auch etwas über die eigene Psyche lernen.

ÖSTERREICH: Wäre es für Natascha besser, wenn Wolfgang Priklopil noch am Leben wäre?
Haller: Die Psychiatrie ist keine Wissenschaft, man kann nicht in die Seele eines Menschen schauen. Die Beziehung zu ihrem Täter war komplex. Er war acht Jahre ihre einzige Bezugsperson. Sein Tod war ein Schock für sie. Abruptes Ende mit Schrecken oder ein Übergang? Sie hätte sich so oder so von ihm lösen müssen.

ÖSTERREICH: Was machen Sie heute um 20.15 Uhr?
Haller: Auf die Aufnahmetaste drücken und das Interview ansehen. Niemand kann so viel über den Täter verraten wie sie. Ich bin gespannt, was sie zu sagen hat, was für ein Bild sie abgibt. Ob ihre Person gefestigt ist. Oder ob sie verhärmt und affektiv abgestumpft wirkt in der Folge eines Psychotraumas.

ÖSTERREICH: Wie empfinden Sie den Medienhype um Natascha?
Haller: Alle sagen - furchtbar. Ob der Medienrummel traumatisierend ist? Ist Hermann Maier traumatisiert? Nataschas Problem ist, dass sich alles um 180 Grad gedreht hat. Zuerst totale Nichtbeachtung, jetzt will die ganze Welt mit ihr sprechen. Aber im Gegensatz zu anderen Opfern verdient sie Geld, kann eine Existenz aufbauen. In anderen Ländern, wie Italien oder Irak, würde eine Kindesentführung mit Achselzucken hingenommen. Gut, dass sich die Leute interessieren!

ÖSTERREICH: Was braucht Natascha im Moment?
Haller: Ruhe und Sicherheit, nur eine Handvoll Vertraute. Aber ich denke, da sind Fachleute am Werk.

ÖSTERREICH: Sie haben ausgerechnet, dass Natascha 664.900 Euro an seelischem Schadenersatz zustünden.
Haller: Um die Spendenfreudigkeit der Österreicher anzukurbeln. Damit es ihr nicht ergeht wie den Angehörigen der Roma von Oberwart, die durch die Rohrbombe von Franz Fuchs getötet wurden. Sie stehen heute mit leeren Händen da.

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