Bundeskanzler im Interview

Kurz: 'Widerstand gegen Brexit-Deal fahrlässig'

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Kanzler Kurz über den Brexit-Deal und Spannungen in der Koalition.

ÖSTERREICH: Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Brexit-Deal zustande kommt, bzw. wie hoch ist die Chance, dass der Deal scheitert?

Sebastian Kurz: Der erste, schwierigste Schritt ist geschafft. Die langwierigen Verhandlungen zwischen den EU-Chefverhandlern und der britischen Premierministerin Theresa May ­haben zu einem Deal geführt. Es ist uns gelungen, die Einheit der 27 verbleibenden EU-Staaten zu wahren. Die Frage ist jetzt, ob es für diesen Deal im britischen und im EU-Parlament Zustimmung gibt. Das lässt sich derzeit leider nicht einschätzen.

ÖSTERREICH: Sind Sie zufrieden mit der von Theresa May ange­botenen Brexit-Lösung?

Kurz: Der Deal zwischen Großbritannien und der EU ist ein guter. Es ist notwendig, alles zu tun, um einen Hard Brexit zu vermeiden. Wir wollen eine möglichst enge politische, kulturelle und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen EU und Großbritannien. Auch nach dem Brexit. Dafür legt dieser Deal die Basis.

ÖSTERREICH: Was ist vom EU-Sondergipfel am kommenden Sonntag zu erwarten?

Kurz: Die Zielsetzung dieses Europäischen Rates ist es, den Brexit-Deal mit allen Staats- und Regierungschefs zu fixieren. Sollte es in Großbritannien eine Mehrheit gegen Theresa May geben, dann wird das am Sonntag zu einer Krisensitzung. Dann ist dieser Sondergipfel leider umso notwendiger. Wir ­haben es leider nicht in der Hand, wie diese Abstimmung ausgeht, das entscheiden nur die Briten.

ÖSTERREICH: Werden alle EU-Staaten der Einigung zustimmen, oder sehen Sie vereinzelt Widerstand?

Kurz: Wir bemühen uns, dass es keinen EU-Widerstand gegen den Deal gibt. Das wäre grob fahrlässig, aber ich ­rechne nicht damit.

ÖSTERREICH: Wie viel Geld muss Großbritannien jetzt noch an die EU zahlen? Die Rede ist von 40 Milliarden Euro …

Kurz: Großbritannien muss die Kosten für jene Entscheidungen tragen, die sie innerhalb der EU noch mitgetragen haben. Ich möchte mich hier aber nicht auf Rechenspiele einlassen.

ÖSTERREICH: Was heißt das für das EU-Budget? Muss ­Österreich künftig mehr an die EU zahlen?

Kurz: Mit Großbritannien fällt ein wichtiger Nettozahler weg. Insofern macht das die Budgetverhandlungen nicht ein­facher. Wir haben als Republik Österreich aber eine ganz klare Linie, dass die EU sparsamer werden muss. Österreich ist gemeinsam mit den Niederlanden und anderen Nettozahlern in einer Gruppe, die sich dafür einsetzt, dass die Bei­träge nicht überborden.

ÖSTERREICH: In Österreich gibt es derzeit eine Diskussion um ­humanitäres Bleiberecht. Einige Länder wie Vorarlberg wollen selbst darüber entscheiden können. Warum sind Sie dagegen?

Kurz: Im Jahr 2014 ist eingeführt worden, dass es eine Bundesbehörde für Asylverfahren gibt, um sicherzustellen, dass die Asylverfahren in neun Bundesländern nicht unterschiedlich ablaufen. Das war damals übrigens unter einer Bundes­regierung unter sozialdemokratischer Führung. Die meisten Bundesländer wollen die bestehende Regelung beibehalten. Die Entscheidung, ob jemand ein humanitäres Bleiberecht erhält, treffen unabhängige Richter.

ÖSTERREICH: Konkret geht es um den Fall einer Familie in Vorarlberg, wo bei der Abschiebung das Kind von seiner schwangeren Mutter getrennt wurde. Geht ­Ihnen so etwas persönlich nahe?

Kurz: Mir geht dieser Fall sehr nahe. Eine Mutter darf bei ­einer Abschiebung nicht von ihrem Kind getrennt werden. Das ist nicht nur meine persönliche Meinung, sondern das ­sagen auch unsere Gesetze. So einen Fall hat es in keinem anderen Bundesland, sondern nur einmal in Vorarlberg ge­geben. Daher habe ich das Vorgehen der dortigen Be­hörden auch kritisiert.

ÖSTERREICH: Diese Woche gab es ziemlichen Wirbel um ein rassistisches FPÖ-Video auf Facebook. Wie sehen Sie das Video?

Kurz: Ich halte dieses Video für absolut inakzeptabel. Das habe ich der FPÖ auch gesagt. So ­etwas hat in Österreich keinen Platz.

ÖSTERREICH: Es wirkt so, als sei der Honeymoon in der Koalition vorbei. Der Ton wird rauer …

Kurz: Wir haben eine professionelle Zusammenarbeit und sind auf einem guten Weg, das Regierungsprogramm abzu­arbeiten. Aber natürlich sind wir unterschiedliche Parteien mit unterschiedlichen Meinungen. Wichtig ist aber, dass wir ­genau das tun, was wir im Wahlkampf versprochen haben.

Interview: Niki Fellner

So kämpft May um ihren Brexit-Deal

Sieben Minister, Staatssekretäre und engste Mitarbeiter zurückgetreten, darunter Brexit-Minister Dominic Raab. Dieser wurde inzwischen durch den weitgehend unbekannten Stephen Barclay ersetzt.

Aber: Laut Times wackeln fünf weitere Minister. ­Außerdem haben eigene Parteimitglieder gegen sie ein Misstrauensvotum angezettelt. An der Spitze der Brexit-Hardliner im Tory-Flügel steht Jacob Rees-Mogg, ein Ex-May-Vertrauter. Am Dienstag muss sich May diesem Misstrauensvotum stellen. Mindestens 48 konservative Abgeordnete haben das schriftlich gefordert.

Nun müssen 158 der 315 Abgeordneten ihrer Tory-Partei gegen sie stimmen. Passiert das, dann ist May als Premierministerin Geschichte.

Kampf. Sie selbst rechnet nicht damit: „Ich werde die Sache durchstehen“, sagt sie und betont, dass sie weiterkämpfen wird.

Übersteht May das Misstrauensvotum, ist der heiße Herbst für sie nicht vorbei: Morgen treffen sich in Brüssel die Europaminister. Sie bereiten den Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs am 25. November vor. Gesprochen wird darüber, ob die EU sich auf mögliche Nachverhandlungen einlassen wird, wie es einige May-Minister fordern. Die Chancen dafür sind allerdings gering, außer die österreichische EU-Ratspräsidentschaft stößt diese an. Kanzler Kurz könnte diese Woche nach London reisen, um mit May den Gipfel vorzubereiten.

Showdown. Absoluter Showdown für May ist Anfang Dezember: Im britischen Parlament wird über den bisher ausgehandelten Deal zwischen EU und London abgestimmt. Wie diese Abstimmung ausgehen könnte, wagt heute noch keiner zu sagen. Karl Wendl

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