Die Lage sei ernst, aber er bleibt dabei: Der Kanzler sieht in der Coronakrise weiter „Licht am Ende des Tunnels“. Noch optimistischer ist er beim Ergebnis der Wien-Wahl.
Wien. Sebastian Kurz (34) stellt sich vor dem Interview im Kanzlerbüro, dem holzgetäfelten früheren Kreisky-Zimmer, einige Minuten lang dem INSIDER-Fotografen: „Passt das so? Ich bin nämlich heut’ wirklich nicht perfekt rasiert. Und sieht man das, was da hinten auf meinem Schreibpult liegt? Hoffentlich nicht.“ Er lacht, er ist locker und gut gelaunt – trotz der aktuell extremen Belastung in der Virus- und Wirtschaftskrise.
Dann setzt sich der junge ÖVP-Chef an den schwarzen Besprechungstisch: Er spricht gern über die kommende Wien-Wahl, über einen erwarteten Erfolg. „Wir können diesmal die rote Dominanz stoppen. Mehr Türkis würde der Bundeshauptstadt guttun“, sagt der Kanzler.
Kurz zu Angriffen im Web: "Unehrlich geführte Debatte"
Koalition. Nicht ganz so gern beantwortet Sebastian Kurz Fragen zum Klima in der türkis-grünen Koalition. Immerhin mehren sich die Berichte aus den Ministerien und vom Ballhausplatz, dass der Kanzler von der Performance des grünen Gesundheitsministers nicht wirklich begeistert sei. Kurz gibt dabei zu, dass man speziell beim Umgang mit der Corona-Gefahr nicht immer einer Meinung mit den Grünen sei: Die Existenz unterschiedlicher Meinungen bei den zwei Regierungsparteien sei aber „legitim“.
© Wolak
×
Ein klares Statement kommt vom Bundeskanzler beim INSIDER-Interview (siehe Seite 8 und 9) auch zur Debatte über eine mögliche Aufnahme von Kindern aus dem griechischen Camp Moria: Die emotional geführte Asyl-Diskussion werde von anderen Politikern „unehrlich und populistisch geführt“, das sei „Symbolpolitik“, die er ablehne. Und mit dieser Haltung sei Österreich in der EU „alles andere als alleine“.
"Asyl-Debatte wird von machen Politikern unehrlich geführt"
Kanzler Kurz im großen INSIDER-Interview.
© Wolak
×
Insider: Wenige Tage vor der Wien-Wahl – wie bedeutend ist der Ausgang dieser Wahl für die Bundespolitik und Ihre weiteren Planungen?
Sebastian Kurz: Die Wahl in der Bundeshauptstadt ist wichtig, aber sie ist keine Bundeswahl. Der Ausgang ist zunächst für Wien wichtig, weil es darum geht, wie es die kommenden Jahre in der Hauptstadt weitergeht. Und weil mir Wien auch persönlich sehr am Herzen liegt, bin ich überzeugt, dass auch der Hauptstadt mehr Türkis guttun würde. Gerade in der Integrationspolitik gibt es in Wien viele Versäumnisse. Diese Entwicklungen können sich nur ändern, wenn die rote Dominanz am Sonntag gestoppt und der ÖVP der Rücken gestärkt wird. Jede Stimme für die FPÖ oder die Liste Strache ist eine verlorene Stimme für Wien, denn FPÖ und Strache sind mit Streit und Vergangenheitsbewältigung beschäftigt.
Insider: Nervt das nicht ein bisserl den ÖVP-Chef, wenn eine 40-Prozent-Partei in der Bundeshauptstadt mit 15 Prozent zufrieden sein soll?
Kurz: Hier muss man auch sehen, wovon wir starten. Die Volkspartei hat bei der letzten Wien-Wahl gerade noch 9 Prozent der Stimmen bekommen. Es wäre also ein großer Sprung, auf 15 zu wachsen. Wir werden mit Gernot Blümel um jede Stimme kämpfen.
Insider: Wien ist noch eine Hochburg der SPÖ, Linz ebenso – nur in Graz stellt die ÖVP den Bürgermeister. Was läuft da in den beiden erstgenannten Städten für die ÖVP nicht so optimal?
Kurz: Es gibt für Gemeinderatswahlen kein Patentrezept, jede Kommune ist anders. Linz ist als Stahlstadt eine traditionelle SPÖ-Hochburg, in der es in der Vergangenheit Ergebnisse gab, die an die 60 Prozent heranreichten. 2015 hatte die SPÖ dort knapp über 30 Prozent erreicht, hier hat sich viel in Richtung anderer Parteien verschoben. Das sehen wir seit Jahren in vielen ehemaligen SPÖ-Hochburgen. In Graz haben wir mit Siegfried Nagl eine starke und visionäre Persönlichkeit, das scheint gut anzukommen.
INSIDER: Zur Corona-Situation in Österreich: Über Umwege war zu hören, dass Sie nicht immer komplett zufrieden mit dem Handeln des Gesundheitsministers sind – was ist der Hauptkritikpunkt?
Kurz: Wir arbeiten in der Bundesregierung sehr gut zusammen, und der Gesundheitsminister und ich sind in ständigem Austausch. Es ist aber legitim, dass man da oder dort anderer Meinung ist und diese dann diskutiert. Was zählt, ist: Wie schaffen wir es, die Pandemie bestmöglich zu bekämpfen?
INSIDER: Wenn man mit unseren Lesern und mit vielen Freunden spricht, merkt man, dass die Stimmung nicht mehr die Allerbeste ist – kann nach den Warnungen nicht wieder etwas mehr Hoffnung kommuniziert werden?
Kurz: Ich bleibe dabei, es gibt – nach einem herausfordernden Herbst und Winter – Licht am Ende des Tunnels. Ich konnte zuletzt in der Schweiz mit Vertretern von drei der größten Pharmaunternehmen sprechen. Auch dort wurde mir wieder versichert, dass man im Bereich der Impfung und der Medikamente schon sehr weit ist. Aber jetzt wird es nochmals eine gemeinsame Anstrengung geben müssen, und ich bitte die Bevölkerung, die Maßnahmen weiterhin ernst zu nehmen.
INSIDER: Der Industrielle Hannes Androsch – und mit dieser Meinung ist er nicht allein – rechnet mit bis zu 800.000 Arbeitslosen in diesem Winter – wie ist Ihre Prognose?
Kurz: Das wird davon abhängen, wie sich die Pandemie entwickelt. Wir sind derzeit damit konfrontiert, dass es vermehrt Reisewarnungen für Wien und andere Regionen gibt. Das ist natürlich fatal für unseren Tourismus. Ich bin sehr froh, dass einige Bundesländer bereits reagiert und Maßnahmen gesetzt haben, um gegenzusteuern. Gerade der Tourismus, egal ob im Winter oder in den Städten, ist eine Branche, in der es um sehr, sehr viele Arbeitsplätze geht und wo es um sehr viele Existenzen geht. Der Tourismus macht in Österreich mit der Sport- und Freizeitwirtschaft 15 Prozent unseres BIPs aus. Das sind Hunderttausende Arbeitsplätze, die hier direkt und indirekt vom Tourismus abhängen. Im Westen sehe ich die Entwicklung bei den Sieben-Tages-Inzidenzen wieder unter den kritischen Wert von 50 gehen. Das ist jener Wert, der für Reisewarnungen herangezogen wird. Wien ist leider mit einem Wert über 100 viel zu hoch.
INSIDER: Wie wird’s im kommenden Jahr mit uns allen weitergehen, wer sind Ihre wichtigsten Berater?
Kurz: Mein Team ist seit Beginn der Pandemie unverändert. Wie Sie wissen, spreche ich aber mit vielen Expertinnen und Experten aus den unterschiedlichsten Bereichen, auch mit internationalen Experten. Als Politiker hat man die Herausforderung, einen möglichst ganzheitlichen Blick auf die Dinge zu haben.
INSIDER: Wie hat sich Ihr Leben mit der Coronakrise verändert?
Kurz: Wie bei uns allen, hat die Pandemie natürlich auch bei mir Veränderungen gebracht, sowohl beruflich als auch privat. Ich habe zu Beginn einige Wochen auf den Besuch bei den Eltern verzichtet. Ich halte nach wie vor Abstand zu ihnen. Das ist, da ich sehr viel Kontakt zu meinen Eltern habe, sehr ungewohnt, aber notwendig. Beruflich haben sich die Reisen stark reduziert, die Themen haben sich verschoben. Der Tagesablauf ist ein anderer. Man startet den Tag mit einem Blick auf die Infektionszahlen.
INSIDER: Auf den Social-Media-Plattformen wird der Ton immer rauer – erfahren Sie noch, was politische Gegner und Trolle über Sie schreiben? Wie gehen Sie damit um?
Kurz: Dieses Phänomen beobachten wir seit Jahren: Je klarer man zu seinen Prinzipien steht, desto rauer wird der Ton manch Andersdenkender. Ich lehne diesen Stil entschieden ab. Ich persönlich halte mich nicht sehr damit auf, bin aber froh, dass wir in der Bundesregierung erst kürzlich neue Gesetze gegen Hass im Netz beschlossen haben. Das Internet ist kein rechtsfreier Raum.
INSIDER: Bei der Diskussion über einen Transport von Migranten aus dem griechischen Camp Moria nach Österreich waren die Angriffe gegen Sie besonders hart.
Kurz: Speziell diese Debatte wird von manchen Politikerinnen und Politikern in Österreich unehrlich und populistisch geführt. Es ist klar, dass niemanden die Bilder aus Moria kaltlassen, auch mich nicht. Aber ich habe in den letzten Jahren auf der Welt sehr viel Leid gesehen. Wir können nicht allen Menschen auf der Welt helfen, indem wir sie bei uns aufnehmen. Hier bleibt der Schlüssel die Hilfe vor Ort. Mit unserer Haltung sind wir übrigens alles andere als alleine in Europa. Die Mehrheit der Länder handelt wie Österreich, nur eine Minderheit ist bereit, Kinder aufzunehmen. Manche davon sprechen davon, 2, 4, 12 oder 20 Kinder aufzunehmen. Das ist reine Symbolpolitik, und das lehne ich ab.