09. Oktober 2008 14:09
Der heurige Literaturnobelpreis geht an ein Werk, das reich ist an
Zivilisationskritik: Jean-Marie Gustave Le Clézio (68) wägt die Lebensart
des materialistischen Westens gegen die Mythologien südamerikanischer
Indianer, gegen das einfache Leben in der Wüste, gegen die Freiheit im
Paradies ab. Dies geht zuungunsten der ersten Welt aus. Der Autor widmet
sich den Schwachen und Ausgeschlossenen einer sogenannten Dritten Welt, und
einer fast mythischen Verbindung von Mensch und Natur. Die "Neue Zürcher
Zeitung" bezeichnete ihn einmal als "uneitlen Einzelgänger und wachen
Tagträumer", Le Clézio wurde als Erneuerer der französischen Tradition des
Erzählens gefeiert.
Starke familiäre Bande nach Mauritius
Jean-Marie Gustave Le
Clézio wurde am 13. April 1940 in Nizza als Sohn eines britischen Arztes und
einer Französin geboren, die beide starke familiäre Bande nach Mauritius
haben. Er verbrachte seine Kindheit in Frankreich und kurzzeitig in Nigeria.
Später hat er unter dem Titel "Onitsha" über seine Kindheit geschrieben.
Nach Literatur-Studien in Frankreich und England schaffte er gleich mit
seinem ersten, mit dem renommierten "Renaudot"-Preis ausgezeichneten Roman,
"Le procès-verbal" (1963, auf Deutsch: "Das Protokoll"), den Durchbruch. In
der euphorischen Kritik wird gelobt, dass Le Clézio sich entgegen den
literarischen Moden dem Erzählen öffnet und so gleich den "noveau roman"
hinter sich ließ.
"Das Protokoll" reißt eines der Themen an, denen sich Le Clezio in
zahlreichen Romanen, Erzählungen, Kinderbüchern und Essays immer wieder
widmen wird: Eine Ekstase der Sinne, die aus außergewöhnlichen
Geisteszuständen erwächst - und nicht selten im Wahnsinn endet. Der Franzose
schreibt über Einzelgänger und ihren Kampf gegen die modernen Zivilisation.
In "Desert" etwa wird die marokkanische Schönheit Lalla zum Fotomodel -
kehrt jedoch desillusioniert zu ihrem einfachen Leben in Marokko, aus der
Zivilisation in die Wildnis zurück. Eine "Antithese zum modernen Westen"
nennt dies die Nobelpreis-Homepage. Der Protagonist des "Protokolls"
hingegen kann sich nicht lösen - und endet im Wahnsinn.
Prägende Erfahrung
Von 1970 bis 1974 vollzog Le Clezio eine
prägende Erfahrung: Als Mitarbeiter des französischen Lateinamerikanischen
Institutes hat er am Leben der Indianer in Panama teilgenommen - eine
Erfahrung, die großen Einfluss auf sein Werk haben sollte. Er übersetzte aus
der tradierten Mythologie der Indianer, widmete sich versunkenen Welten und
kontrastierte Paradies-Zustände mit der "ersten Welt". Sein "Kampf der
Kulturen" hat einen eindeutigen Verlierer, den zivilisierten Menschen.
Der Autor bekannte noch 1965, dass er nicht sicher ist, ob Schreiben eine
gute Ausdrucksform ist, unterrichtete später an einer buddhistischen
Universität in Thailand und widmete sich ökologischen Fragen. Dieser
Idealismus hat nicht allen seinen literarischen Kollegen gefallen - diese
warfen ihm laut "Neuer Zürcher Zeitung" "übertriebenen Idealismus" vor, und
sahen in ihm sogar, im Falle von Bernard-Henri Levy, einen "PLO-Anhänger"
und "erklärten Antizionisten". Auf Deutsch erschienen u.a. "Der Goldsucher",
"Ein Ort fernab der Welt" und "Revolutionen". Le Clezio, der u.a. auch den
"Paul Morand"-Preis der Academie francaise (1980) erhalten hat, lebt heute
in Albuquerque (USA), Frankreich und auf Mauritius.