19. Mai 2008 08:52
Tausendfach staubt das Buch in deutschen Kellern und auf Speichern vor sich
hin, Antiquariate handeln es unter dem Ladentisch, im Ausland wurde es in
zahlreichen Sprachen gedruckt, und auch im Internet ist es zu finden: Adolf
Hitlers Hetzschrift "Mein Kampf" ist 63 Jahre nach Ende des Zweiten
Weltkriegs durchaus kein verborgenes Buch. Das ideologische Grundwerk des
Nazi-Terrors, das zu Hitlers Lebzeiten millionenfach gedruckt wurde, darf
dennoch bis zum Jahr 2015 nicht veröffentlicht werden. In dem Jahr - 70
Jahre nach Hitlers Selbstmord - läuft der Urheberschutz für das Buch aus, in
dem der Diktator alle seine zerstörerischen Pläne langatmig und mit
sprachlichen Schwächen offenlegte.
Diskussion um wissenschaftlich kommentierte Ausgabe
Sieben Jahre
vor dem Ende des Urheberschutzes ist die Debatte um eine wissenschaftlich
kommentierte Ausgabe wieder voll entbrannt. Bisher weigert sich der
Freistaat Bayern, dem nach Kriegsende die Verwertungsrechte übertragen
wurden, mit Verweis auf den Respekt gegenüber den Opfern des Holocaust, eine
kritische Edition vor 2015 zuzulassen. "Hiervon abzurücken, würde weltweit
enorme politische Aufmerksamkeit erregen und vermutlich auf großes
Unverständnis stoßen", heißt es in einer Erklärung des zuständigen
Finanzministeriums.
Kürzlich schaltete sich das Kuratorium des Dokumentationszentrums
Reichsparteitagsgelände in Nürnberg ein und forderte eine wissenschaftliche
Ausgabe, um einem Missbrauch des Hass-Pamphlets durch Neonazis vorzubeugen.
Nach jahrelanger Funkstille könnte nun Bewegung in die Debatte kommen: Das
Finanzministerium zeigte sich bereit, "einen Meinungsaustausch in dieser
Frage zu suchen".
Dass das Kuratorium direkt an Bayerns Ministerpräsidenten Günther Beckstein
(CSU) herangetreten ist, war ein kurzer Weg: Denn Beckstein gehört dem hohen
Gremium seit Jahren an. Schon als Innenminister war er an der Gründung des
Dokuzentrums Reichsparteitagsgelände beteiligt und ist vertraut mit der
Entmystifizierung von Nazi-Legenden. Die Hoffnungen sind groß, dass die
Blockade jetzt aufgelöst wird. So bat das Kuratorium auch
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), die bislang ablehnende
Haltung des Auswärtigen Amts zu überprüfen.
Quellen nicht erforscht
Denn die Zeit drängt. "Die Quellen zu
'Mein Kampf' sind noch nicht wirklich erforscht. Wir müssten jetzt bald
anfangen", sagt der Leiter der Abteilung NS-Forschung am Münchner Institut
für Zeitgeschichte (IfZ), Volker Dahm. Mindestens im nächsten Jahr müsse die
Arbeit beginnen, um eine Edition bis 2015 fertigzustellen. "Wenn man solchen
Texten das Geheimnisvolle, das Verbotene nimmt, dann werden sie für
bestimmte Kreise schon uninteressant", sagt Dahm.
In zahlreichen Bänden hat das IfZ bereits Hitler-Dokumente publiziert. "Nur
das Hauptwerk ist nicht dabei", sagt Dahm. Dabei sei das 1924 in
Festungshaft in Landsberg am Lech entstandene Werk die wichtigste Quelle zur
Ideologie und Politik des Dritten Reiches. Hitler lege darin sein
"antihumanes Denken vollkommen und ohne taktische Rücksichten offen".
Eckart Dietzfelbinger, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Doku-Zentrums
Reichsparteitagsgelände, sagt: "Die einzige Möglichkeit, um Mythen- und
Legendenbildung zu verhindern, wäre eine kommentierte Edition." Das Buch
lese sich schrecklich. "Hier wurde Klartext geredet, und alles was da drin
steht, ist umgesetzt worden". Ab 2015 drohe mit dem Hass-Pamphlet Kommerz
gemacht zu werden, wenn es nicht eine wissenschaftliche Ausgabe auf dem
Markt gebe. Das Finanzministerium hält dem entgegen, dass ein
unkontrollierter Nachdruck von "Mein Kampf"" auch nach 2015 nicht zulässig
sei.
Geteilte Meinungen
Im Zentralrat der Juden in Deutschland sind
die Meinungen geteilt. Präsidentin Charlotte Knobloch, die ebenfalls dem
Nürnberger Kuratorium angehört, äußert sich zurückhaltend. Zwar warnt sie
vor der "Gefahr der unbeschränkten Verbreitung des Schandwerkes" durch
Neonazis ab 2015. "Nichtsdestotrotz halte ich in dieser Frage weitsichtiges
und sensibles Abwägen für angezeigt - insbesondere mit Rücksicht auf die
Gefühle der Überlebenden", sagt sie gegenüber dpa. Denn ein Großteil lehne
den Nachdruck aus verständlichen Gründen ab.
Anders sieht es der Generalsekretär des Zentralrates, Stephan Kramer. "Um
dieses Buch schwelgt eine Aura, die man mit harten Fakten aufbrechen kann",
sagt er der dpa. Mit einer kommentierten Ausgabe könnte man nach seiner
Ansicht auch mit dem Vorurteil aufräumen, man hätte damals nicht gewusst,
was Hitler wirklich wollte. "Weder das Strafrecht noch Urteile oder Verbote
können rechte Gesinnung wirksam verhindern", sagt Kramer. "Wenn wir klug
sind, verpassen wir die Chance nicht, mit unkonventionellen Mitteln die
braune Brut zu bekämpfen." Zwar habe auch er "Bauchschmerzen" bei dem
Gedanken an die Veröffentlichung von "Mein Kampf". Dennoch meint Kramer:
"Wir brauchen statt einem erzwungenen Schweigen eine breite öffentliche
Diskussion darüber."