Wegen Corona-Krise

Experten: Russen sind Putin überdrüssig

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Die öffentliche Meinung in Russland verändert sich merklich.

Coronavirus-Pandemie verdeutlicht, dass Russlands Gesellschaft nach 20 Jahren mit Wladimir Putin an der Macht ihrer Regierenden überdrüssig sei. Das erklärte der russische Politikexperte Konstantin Eggert am Donnerstag in einem Onlineseminar des Wiener Forum for journalism and media (fjum). Die russische Hilfskampagne für das Corona-geplagte Italien erachtete er eher als einen Fehler des Kreml.
 
Die Schaffung einer Identität der russischen Nation als die einer Garnison in einer vom Westen belagerten Festung sei lange Zeit die zentrale propagandistische Schlagrichtung des Kreml gewesen und das habe auch gut funktioniert, sagte Eggert.
 

Veränderte Meinungslage

Seit der Wiederwahl Putins zum Präsidenten 2018 habe sich dies im Zusammenhang mit einem fortdauernden Einkommensrückgang der Bevölkerung und einer umstrittenen Pensionsreform jedoch zu verändern begonnen. Eine Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum habe im vergangenen Jahr erstmals gezeigt, dass die "Garnison in der belagerten Festung" nicht mehr wirklich gegen Feinde kämpfen wolle und an einer friedvolleren Außenpolitik Russlands interessiert sei, erzählte er.
 
Die im März gestartete humanitäre Hilfskampagne des russischen Verteidigungsministeriums für das Corona-geplagte Italien sah Eggert im Zusammenhang mit dieser veränderten Meinungslage. "Ich denke aber nicht, dass diese Kampagne sehr erfolgreich war. Sie war in mancher Weise sogar ein Fehler des Kreml", betonte er. Die Reaktionen in russischen sozialen Netzwerken seien kritisch gewesen und es sei zunehmend die Frage gestellt worden, warum den Italienern, aber nicht der eigenen Bevölkerung geholfen werde.
 
Meinungsforscher und Soziologen, darunter ein Team um den renommierten Wirtschaftswissenschafter Michail Dmitrijew, hätten zuletzt aber auch eine weitere Veränderung der öffentlichen Meinung in Russland beobachtet: "Der Coronavirus hat offenbart, dass die Menschen ihrer Regierenden überdrüssig seien. Das bedeutet freilich nicht, dass sie morgen revoltieren werden, die Tore des Kreml stürmen und (den Oppositionspolitiker, Anm.) Aleksej Nawalny inthronisieren werden", referierte er. Viele Menschen seien einfach Putin-müde und wollten etwas Neues. Schließlich habe der Präsident verspätet, zurückhaltend und feige auf die Pandemie reagiert, erklärte der Experte.
 

Referendum am 1. Juli

Im Kreml selbst gebe es vor diesem Hintergrund wachsende Bedenken, dass viele Menschen nicht an der für 1. Juli angesetzten Verfassungsvolksabstimmung teilnehmen würden.
 
"Putin wünscht sich aber öffentliche Zustimmung für die Verlängerung seiner Regentschaft bis in das Jahr 2036", sagte Eggert. Die Verantwortlichen hofften nun jedoch, dass die große Militärparade am 24. Juni zu einer Aufbruchsstimmung führen würden und eine massive Beteiligung am Referendum sicherstellte. Zusätzlich würden laschere Regeln Wahlbetrug auf "turkmenischem Niveau" zulassen, erklärte er. Turkmenistan gilt als einziger wirklich totalitärer Staat auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion.
 
 Eggert rechnete gleichzeitig aber auch mit Versuchen des Kreml, die Aufmerksamkeit der russischen Bevölkerung auf die aktuellen Unruhen in den USA zu lenken. An einem großen Einfluss Putins in den USA selbst glaubte er hingegen nicht. Trump wäre auch ohne Putin gewählt worden, betonte er. Viel erfolgreicher sei hingegen der russische Einfluss auf die öffentliche Meinung in Europa. "Die Betonung von Unruhen in den USA würde in Europa viel besser funktionieren. Antiamerikanismus ist hier sehr verbreitet", sagte der Experte.
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