Die Zahl der Binnenflüchtlinge sind massiv angestiegen. Binnen 72 Stunden wurden 27 Kinder getötet. Die Caritas weiter gegen Abschiebungen.
Die radikalislamischen Taliban haben die sechste afghanische Provinzhauptstadt binnen weniger Tage erobert. Am Montag übernahmen sie die Kontrolle in Aybak in der Provinz Samangan im Norden des Landes. In der afghanischen Hauptstadt ermordeten die Islamisten indes erneut einen Medienvertreter. Die UNO zeigte sich angesichts der prekären Sicherheitslage in Afghanistan "extrem besorgt" und rief wegen der steigenden Opferzahlen zum Schutz der Zivilbevölkerung auf.
Provinzräte und Parlamentarier bestätigten die Einnahme der Stadt Aybak. Die Islamisten hätten die wichtigsten Einrichtungen der Regierung in der Stadt eingenommen, darunter das Polizeihauptquartier, den Gouverneurssitz und das Gefängnis der Stadt. Die Provinzrätin Machboba Rahmat sagte, die Sicherheitskräfte hätten die Stadt mit ihren geschätzt 120.000 Einwohnern einfach verlassen. Davor hätten sie das Verteidigungsministerium um Luftangriffe gebeten, aber dieses habe nicht auf sie gehört. "Sie dachten, wenn die Regierung ihnen keine Aufmerksamkeit schenkt, werden sie ihr Leben nicht für die Regierung riskieren", so Rahmat. Die Sicherheitskräfte seien auf eine Anhöhe am Rande der Stadt geflohen.
In vier Tagen 34 Provinzhauptstädten eingenommen
Damit haben die Islamisten binnen vier Tagen sechs von 34 Provinzhauptstädten eingenommen. Am Sonntag fiel die wichtige Stadt Kunduz an sie. Laut einem Taliban-Sprecher rücken die Kämpfer zudem auf Mazar-i-Sharif vor, der größten Stadt im Norden Afghanistans.
In den afghanischen Provinzen Kandahar, Khost and Pakria wurden nach UNICEF-Angaben in den vergangenen drei Tagen mindestens 27 Kinder getötet. 136 weitere Minderjährige seien verletzt worden, teilte das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen am Montag mit. "UNICEF ist schockiert von der rapiden Eskalation schwerer Verstöße gegen Kinder", erklärte der für Afghanistan zuständige UNICEF-Repräsentant Hervé Ludovic De Lys. "Die Gräueltaten werden von Tag zu Tag schlimmer.
Empörung groß
"Ich bin wegen der sich verschlechternden Situation extrem besorgt", sagte UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths in einer Stellungnahme des UNO-Nothilfebüros in Genf. Allein im Juli seien mehr als tausend Menschen durch Angriffe in den Konfliktprovinzen Helmand, Kandahar und Herat getötet oder verletzt worden. Griffiths unterstützte die UNO-Forderung nach einem Waffenstillstand. Er forderte zudem Sicherheit und Bewegungsfreiheit für Hilfsorganisationen in dem Land.
Auch die Zahl der Binnenvertriebenen (Internally Displaced People/IDPs) steigt seit Anfang Mai deutlich an. Bis Ende Juli verließen annähernd eine Viertelmillion Menschen in dem Land ihre Dörfer und Städte. Die UNO-Agentur zur Koordinierung humanitärer Hilfe (OCHA) bezifferte die Zahl am Montag auf mehr als 244.000 - mehr als vier Mal so viel wie im gleichen Zeitraum des Vorjahrs. Der Großteil der Binnenflüchtlinge floh demnach aus Provinzen im Nordosten und Osten vor bewaffneten Kämpfen.
Jede Woche zehntausende Flüchtlinge
Insgesamt leben in Afghanistan etwa 37 Millionen Menschen. Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) verlassen jede Woche etwa 30.000 Afghanen ihr Land. Die Schätzungen basieren auf Umfragen bei Migranten und Schleppern. Seit dem Beginn des Abzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan sind auch die Zahlen der Todesopfer und Verletzten in der Zivilbevölkerung deutlich gestiegen. Die UNO warnt, dass 2021 zum Jahr mit der höchsten Zahl an zivilen Opfern werden könnte.
Nachdem die Taliban am Freitag laut eigenen Angaben den Sprecher der Regierung in Kabul ermordet hatten, töteten sie mit dem Radiojournalisten Tufan Omar am Sonntag in Kabul offenbar erneut einen wichtigen Medienvertreter. In der südlichen Provinz Helmand sei zudem ein Lokaljournalist von den Taliban entführt worden. Ein Taliban-Sprecher sagte am Montag, ihm lägen zu beiden Fällen keine Informationen vor.
Angriffe auch auf Journalisten
Medienvertreter sehen sich in Afghanistan immer wieder Angriffen ausgesetzt. Nach Angaben der Bürgerrechtsgruppe NAI, deren Mitglied der getötete Radiomanager war, wurden allein in diesem Jahr 30 Journalisten und Medienmitarbeiter von militanten Gruppen getötet, verletzt oder verschleppt. Mehrere afghanische Nachrichtenanbieter haben die USA aufgefordert, afghanischen Medienschaffenden Zuflucht zu geben.
In der Diskussion um Abschiebungen von Asylwerbern mit negativem Bescheid meldete sich am Montag erneut die Caritas zu Wort. Es sei notwendig, jeweils die aktuelle Sicherheitslage im Herkunftsland im Zuge eines rechtsstaatlichen Verfahrens und vor jeder Abschiebung "genau und rasch" zu prüfen, sagte Anna Parr, Generalsekretärin der Caritas Österreich, in einem der APA übermittelten Statement. "Aufgrund der drastischen Verschlechterung der aktuellen Sicherheitslage halte ich Abschiebungen nach Afghanistan den aktuellen Medienberichterstattungen zufolge derzeit menschenrechtlich für nicht vertretbar", betonte sie. Österreich sei ein Rechtsstaat und habe sowohl die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) als auch die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) unterzeichnet. Beide verbieten es, jemanden abzuschieben, wenn im Herkunftsland Tod, Folter oder unmenschliche Behandlung drohten, so Parr. Dieser völkerrechtliche Grundsatz der Nichtzurückweisung gelte für alle Menschen und auch für Afghanistan.
ÖVP gegen Abschiebestopp
Die ÖVP ist in der Frage jedoch kompromisslos und hält trotz der sich täglich verschärfenden Sicherheitslage sowie eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EMGR) über den Stopp einiger Abschiebungen von vergangener Woche an den Rückführungen fest. Das Thema hatte am Freitag auch zu einem diplomatischen Zwist zwischen Wien und Kabul geführt. Nachdem die afghanische Botschafterin in Wien, Manizha Bakhtari, in einem Interview mit dem ORF-Ö1-Radio um die Verlängerung des Abschiebestopps für afghanische Asylwerber mit negativem Bescheid über den Oktober hinaus gebeten hatte, wurde sie in das Wiener Außenministerium einbestellt.
Das Außenamt hat bereits vor einiger Zeit eine Reisewarnung für ganz Afghanistan verhängt. Es bestehe das Risiko von gewalttätigen Auseinandersetzungen, Raketeneinschlägen, Minen, Terroranschlägen und kriminellen Übergriffen einschließlich Entführungen, Vergewaltigungen und bewaffneter Raubüberfälle im ganzen Land, heißt es auf der Seite des Ministeriums. Vor allen Reisen werde gewarnt, den in Afghanistan lebenden Auslandsösterreichern und Österreichern, die sich aus anderen Gründen in Afghanistan aufhalten, werde "dringend angeraten das Land zu verlassen".
Auch Iran wegen Flüchtlingswelle besorgt
Unterdessen ist nicht nur Europa, sondern auch der Iran wegen einer möglichen, neuen Flüchtlingsbewegung aus Afghanistan besorgt. Der Iran hatte nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan 1979 über drei Millionen afghanische Flüchtlinge einreisen lassen. "Für uns ist die Sicherheit Afghanistans enorm wichtig, und daher verfolgen wir auch besorgt die jüngsten Spannungen", sagte Außenamtssprecher Saeed Khatibzadeh. Die politischen Differenzen sollten ohne Einmischung aus dem Ausland, sondern über interne Verhandlungen aller Seiten, auch mit den Taliban, gelöst werden. Teheran sei bereit, im Rahmen einer regionalen Zusammenarbeit mitzuhelfen.
Im Iran gibt es Differenzen, wie die Regierung demnächst mit den Taliban umgehen soll, besonders nach den Spannungen an der gemeinsamen Grenze im Nord- und Südosten des Landes. Einige politische Kreise in Teheran sind der Auffassung, dass die Taliban sich verändert hätten und nicht mehr die islamistische Bewegung der letzten Jahre seien und daher auch nicht mehr als Feind eingestuft werden sollten. Andere jedoch sagen, dass die jüngsten Entwicklungen genau das Gegenteil bewiesen, außerdem bleibe der schiitische Iran für die sunnitischen Taliban stets ein religiöser Erzfeind.