Interview
Leben im Krieg: Sophia Maiers Plädoyer für Menschlichkeit
13.09.2025Ihr bewegendes Buch ist ein Plädoyer für die Menschlichkeit: In „Herz aus Stacheldraht“ erzählt Kriegsreporterin Sophia Maier vom Leid der Menschen und erklärt die Rolle des Westens.
Als Kriegsreporterin berichtete Sophia Maier (38) aus Ländern wie Afghanistan, Syrien, der Ukraine, Israel und dem Westjordanland. Sie hat vieles gesehen und erlebt, das die meisten Menschen sich in ihren schlimmsten Alpträumen nicht ausmalen können und wollen. In ihrem neuen Buch „Herz aus Stacheldraht“ schreibt die deutsche Demokratiewissenschaftlerin und Journalistin über ihre Erlebnisse in Kriegs- und Krisenregionen auf der ganzen Welt und erzählt von den Schicksalen der Menschen, aber auch von Menschlichkeit und Hoffnung, macht auf die verlorene Menschlichkeit aufmerksam und deckt die Doppelmoral des Westens auf. „Es gibt unverhandelbare Rechte“, sagt Sophia Maier im Interview mit MADONNA, „An denen möchte ich festhalten.“
Ihr Buch heißt „Herz aus Stacheldraht“. Es gibt ein Herz aus herumliegendem Stacheldraht eines Grenzzauns, das ein kleines Mädchen gemacht und Ihnen geschenkt hat. Wo ist das?
Sophia Maier: Oh Gott, wie traurig. Das habe ich nicht mehr, ich war damals viele Monate im griechischen Geflüchtetenlager Idomeni. Ich hatte in Deutschland keine Wohnung, meine Sachen waren eingelagert. Dabei ging es verloren. Aber der Moment und diese Geste haben sich so tief in mich eingebrannt, dass diese tiefe Berührung noch in mir ist.
Der Titel steht nicht nur für dieses Herz, sondern hat auch eine Symbolik.
Maier: Für mich steht er für vieles. Ich glaube, dass wir als Gesellschaft Güte und Humanismus in uns tragen und versuchen, Menschen zu helfen. Ich würde das nie schwarzweiß sehen, aber diese zunehmende Verrohung, diese Entmenschlichung, dieser kalte Diskurs greift immer mehr um sich. „Das Herz aus Stacheldraht“ kann für diese große politische Ebene stehen, aber auch im Kleinen. Man begegnet vielen Menschen, die Mitgefühl und Empathie haben, die Mitmenschlichkeit leben, wo sie es können. Die gleichzeitig aber auch Vorbehalte oder stigmatisierendes Gedankengut in sich tragen. Ich glaube, der Mensch ist immer beides. Das Herz symbolisiert diesen Zwiespalt.
Sie erklären im Buch die Rolle des Westens. Wo sehen Sie das größte Versagen?
Maier: Das größte Versagen ist für mich, dass wir das eigentlich Unverhandelbare wieder verhandelbar machen. Ich bin keine Politikerin, ich bin Journalistin, Reporterin, Mensch. Ich kann nicht sagen, die Politik muss sich so und so ändern. Aber ich habe als Reporterin das Privileg, an diese Orte, in diese Kriegsregionen, zu reisen und kann sagen: Es gibt unverhandelbare Rechte – Menschenrechte, das Recht auf Unversehrtheit, auf Menschenwürde. An denen möchte ich festhalten. Wir machen das verhandelbar, indem wir Menschen vor unseren Toren ertrinken lassen, sie erfrieren lassen. Indem geflüchtete Kinder unter menschenunwürdigen Bedingungen auf europäischem Boden ausharren müssen. Indem wir Menschen in Terrorregime abschieben. Es gibt sehr viele Beispiele und das ist für mich das größte Versagen des sogenannten Westens.
Kann man sagen, dass wir diese Rechte für uns in Anspruch nehmen, sie aber anderen nicht mehr zugestehen?
Maier: Auf jeden Fall. Nicht alle von uns, aber die Entwicklung geht immer mehr in diese Richtung. Wir als Westen, als Europa, schreiben uns diese unverhandelbaren Werte auf die Fahne. Wir sind die Guten. Wir sind diejenigen, die das nicht nur leben, sondern im besten Fall exportieren. Wenn wir nicht in der Lage sind, diese Werte einzuhalten, müssen wir aufhören, uns in diese Länder einzumischen. Wir kreieren zum Teil Fluchtursachen. Wenn die Menschen dann zu uns kommen, sagen wir: „Hier Stopp, bitte nicht weiter.“ Das ist sehr inkonsequent und unmoralisch.
Sie begeben sich in große und für mich unvorstellbare Gefahren. Warum?
Maier: Es ist schwer, darauf eine Antwort zu finden, mit der ich mich wohlfühle. Ich möchte mich nicht erhöhen oder erhöht werden. Ich höre immer wieder, wie mutig und großartig das sei, was ich tue. Ich respektiere diese Sicht von außen. Gleichzeitig bin ich zutiefst überzeugt, dass ich nicht die Mutige bin. Für mich sind die Mutigen die Menschen, die trotz des größten Leids oder der größten Gewalt Menschlichkeit leben. Ich habe keine Antwort auf die Frage, warum ich mir das antue. Aber ich will immer wieder darauf aufmerksam machen, wie privilegiert ich als deutsche, weiße Frau mit einem europäischen Pass bin.
Wie gehen Sie mit der Gefahr um? Blenden Sie die manchmal aus?
Maier: Ja und nein. Man braucht ein gesundes Bewusstsein dafür. Man kann es nicht komplett verdrängen. Gerade an Orten wie der Ukraine, wo ich in einem Kriegsgebiet bin, ist es lebensgefährlich, sich einzureden, das wäre nicht gefährlich. Ich sage mir immer: „Sophia, du musst das kurz durchdenken, alle Szenarien durchspielen.“ Man muss einen gesunden Respekt für die Situation haben. Ich habe mir diesen Funktioniermodus antrainiert, den ich auch im Buch beschreibe. Ich funktioniere einfach.
Spannend ist, dass Sie allen Seiten zuhören. Macht es das manchmal schwierig, das Vertrauen zu gewinnen?
Maier: Damit muss man transparent umgehen, also den Menschen offen sagen, weswegen man da ist und wer die anderen Gesprächspartner sind. In Israel und dem Westjordanland war das natürlich Thema, weil das für die Menschen dort so emotional ist. Damit transparent umzugehen, ist der einzige Weg. Sonst laufe ich Gefahr, dass sie sich betrogen fühlen.
Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?
Maier: Es gibt diesen vielleicht pathetischen Satz: Menschen wieder zu Menschen machen. Aber genau darum geht es. Wir leben in Zeiten, wo Menschen – vor allem geflüchtete Menschen oder Menschen in Krisenregionen – nur noch in Zahlen und Statistiken verhandelt werden, teilweise in entmenschlichender Sprache. „Flüchtlingskrise“, „Flüchtlingswelle“ oder diese abstruse Unterscheidung zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und Kriegsflüchtlingen. Als wäre es nicht legitim zu fliehen, wenn man Hunger leidet oder Angst hat, seine Familie nicht ernähren zu können. Das war eine große Motivation. Wenn ich mit meiner Arbeit nur ganz wenige Menschen berühren kann, hat es sich gelohnt.
Es gibt viele Krisen, viele dauern Jahre an. Wird es schwieriger, die Aufmerksamkeit dafür zu bekommen?
Maier: Ja und ich habe Verständnis dafür. Es ist zu viel. Selbst für Leute, die grundsätzlich große Empathie für die Realitäten der Menschen vor Ort haben, ist es schwierig. Hier haben wir den Ukrainekrieg, dazu der Wahnsinn in USA, die politischen Umwälzungen im eigenen Land. Mir ist es auch manchmal zu viel. Es ist wichtig, sich immer wieder herauszunehmen, um Energie zu tanken und sich nicht jeden Tag mit den Grausamkeiten dieser Welt zu beschäftigen. Dann kann man wieder Raum haben, um die Augen nicht zu verschließen.
Sie haben sich auch zum Feindbild der Rechten gemacht. Wie gehen Sie damit um?
Maier: Der Hass kommt auch wegen meiner Nahost- und Migrationsberichterstattung – nicht nur von rechts. Meine Feindbilder sind divers, aber vor allem rechts. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, es macht nichts mit mir. Das hat selbstverständlich Folgen. Manchmal für den Alltag, aber vor allem für die Seele. Die digitale Gewalt begann um 2016. Jetzt hat es einen Peak erreicht. Ich hoffe, es ist der Peak. Das Schlimme ist, zum einen gibt es so einen Gewöhnungseffekt. Wenn mich früher jemand beschimpft hat, war ich geschockt. Jetzt geht es da rein, da raus. Dann kommt die nächste Ebene mit Morddrohungen, auch sexualisierten Gewaltandrohungen. Ich versuche, mir immer klarzumachen, dass dieser Hass und diese digitale Gewalt nichts mit mir als Menschen zu tun haben. Aber an schwächeren Tagen macht mir das durchaus Sorgen.
Sie schildern in „Herz aus Stacheldraht“ viele berührende Geschichten. Gibt es Begegnungen, die Ihnen besonders nahegegangen sind?
Maier: Auf jeden Fall die Frauen in der Ukraine, die in einem Keller ausharrten. Das war das erste Mal, dass ich vor der Kamera zusammengebrochen bin. Es gibt im Buch viele Momente. Aber diese Begegnung ist nachhaltig tief in mir, weil ich einfach nicht mehr konnte. Ich habe wegen diesem Leid geweint. Ich habe geweint, weil ich nur so kurz rein- und wieder rausgegangen bin und mich gefragt habe, was ich da eigentlich tue. Weil ich das Gefühl habe, ich kann ihnen, ihrem Schmerz und ihrer Realität nicht gerecht werden. Ich habe geweint, weil das alles aussichtslos ist.
Sie berichten über so viele schreckliche Dinge und Schicksale. Was sind die schönen Momente?
Maier: Das Schöne ist, dass man an kaum einem anderen Ort so viel Herzlichkeit und Wärme erlebt. Als ich so lange in Idomeni war, in dem Lager, habe ich nach und nach eine kleine Infrastruktur aufgebaut. Die Menschen hatten nichts. Sie haben irgendwoher eine Pfanne bekommen, irgendwo hatten sie eine Tomate und Paprika. Sie haben ihr Feuerchen gemacht und gesagt: „Sophia, komm. Iss mit uns.“ Menschen, die nichts haben, die über Monate gestrandet sind, in Zelten leben und jeden Tag hoffen, dass diese Grenze aufgeht, die aber nie aufgehen wird, die in diesem Leid das Wenige, das sie haben, teilen. Das ist es, was mich immer wieder antreibt: Zu sehen, dass an diesen düsteren Orten Menschlichkeit herrschen kann.
Ab 16. September ist TV-Reporterin Sophia Maier mit ihrem Buch auf Lesetour. "Herz aus Stacheldraht" erscheint am 15. September.