Psychiaterin Kastner

So blickte ich in Fritzls Seele

22.03.2009

Ihr Psychogramm legte die Basis für Josef Fritls Verurteilung. Das Interview mit der Frau, die das Monster entschlüsselte.

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© Reuters
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Wie nähert man sich einem Menschen, der 24 Jahre seine Tochter im Kellerverlies gefangen hielt? Wie blendet eine Frau Emotionen aus, wenn sie einem massenhaften Vergewaltiger gegenübersitzt? Der seinem eigenen Baby die Rettung verweigert hat? „Offen und respektvoll“, sagt Adelheid Kastner, 46.

Sie ist Josef Fritzl gegenübergesessen, hat ihn sechs Mal getroffen und nach stundenlanger Beschäftigung mit einem, der für viele nur „das Monster“ war, jenes Gutachten verfasst, das zur Grundlage für den Schuldspruch wurde. Ihr gegenüber zeigte sich Josef Fritzl ohne Maske, ihr offenbarte er seine Gedanken und (Schuld-)Gefühle, sie behandelte er mit einem Respekt und einer Höflichkeit, die er Frauen sonst wohl nie erwies.Wie muss so eine Frau beschaffen sein, die es schafft, einen Fritzl „in die Knie“ zu zwingen?

Vertrauen schaffen
Ein unglaubliches Selbstbewusstsein strahlt sie aus, das keiner aus der Ruhe bringen kann. Kühle Sachlichkeit, die dem Gesprächspartner aber nicht das Gefühl gibt, dass er sie kalt lässt. Die so viel Vertrauen schafft, dass er sie dennoch in die hintersten Winkel der Seele vordringen lässt. Neugier treibt sie an. Wie sieht sie es selbst? „Ich glaube nicht, dass ich an den Job anders rangehe als ein Mann, außer dass man den Frauen vielleicht eine größere Neugier als den Männern nachsagt“, analysiert Kastner.

Die dunklen Seiten der Menschen haben die Linzerin schon von Kindheit an interessiert. Schon im Kindergarten wollte sie Ärztin zu werden, als Teenager beschloss sie die Seele von Schwerverbrechern zu entschlüsseln. „In England, wo ich auf Sprachferien war, entdeckte ich die „True-Crime“-Storys, die es bei uns in dieser Form nicht gab. Die hab ich verschlungen.“ Kein Wunder, dass sie gleich zugriff, als man ihr nach dem Psychiatrie-Studium eine Konsiliarstelle im Gefängnis Garsten anbot. „Da war ich da, wo ich immer hinwollte.“

Angst vor den „schweren Jungs“ kennt sie keine. Im Gegenteil: Bei ihren Gesprächen besteht sie darauf, alleine mit dem Häftling sein zu können. Ihre Gegenüber wissen das zu schätzen. Anders als das bei Kollegen schon mal der Fall sein kann, musste sie ein Gespräch noch nie wegen eines Aggressions-Ausbruchs abbrechen.

Kein Fernsehen
Ihre Leidenschaft, die Gewalt, die in Mitmenschen schlummert, zu ergründen, beschränkt sich freilich auf die Praxis. Von Krimis hält sie wenig. Ferngesehen wird nur „punktuell“ – höchstens jeden zehnten Tag. Zwischen 2004 und 2006, sagt sie, hätte sie den Fernsehkonsum total verweigert. Entspannt wird lieber beim Kochen mit Freunden, im Garten oder – das Höchste – bei der Musik von Johann Sebastian Bach. Das sind Momente, bei denen sie die Härte des Schutzschilds aufweichen kann, mit dem sie sich bei ihrem Job umgeben muss.

Im ÖSTERREICH-Interview: "Monster saß mir keines gegenüber"

ÖSTERREICH: Frau Kastner, wie schwer ist es, in die Seele eines Verbrechers wie Josef Fritzl einzudringen. Haben Sie eine besondere Strategie?

Adelheid Kastner: Ich nähere mich jemanden, den ich begutachte, nicht anders als jedem anderen Menschen, über dessen Innenleben ich etwas erfahren will. Man setzt sich ihm offen und respektvoll gegenüber und fragt. Ich beobachte nicht nur, was derjenige sagt, sondern wie er etwas sagt, wie er sich verhält und wie seine Emotionen sind.

ÖSTERREICH: Wie sind Sie in das schwierige Gespräch mit Josef Fritzl eingestiegen?

kastner: Meine erste Frage ist immer: Wann sind Sie geboren? Und als zweite Frage: Leben Ihre Eltern? Oder wie im Fall von Josef Fritzl: Wie haben Ihre Eltern gelebt? Interessanterweise antworten viele mit der Gegenfrage „Wie meinen Sie das?“, was doch ein gewisses Misstrauen vermuten lässt.

ÖSTERREICH: Wie war Ihre erste Begegnung mit Josef Fritzl?

Kastner: Eigentlich unspektakulär. Ich habe mich vorgestellt, habe ihm erklärt, warum ich da bin. Er hat mir geantwortet, dass er weiß, warum ich da bin. Josef Fritzl hat sich nie verweigert, war höflich, hat mich respektvoll behandelt und hat alle Fragen, die ich ihm gestellt habe, beantwortet.

ÖSTERREICH: Ist Josef Fritzl ein Monster?

Kastner: Ein Monster ist mir noch nie gegenüber gesessen. Ich begutachte Menschen, keine Monster.

ÖSTERREICH: Wenn Sie die Ursache für die psychische Störung kennen, haben Sie dann Verständnis für das Verbrechen?

kastner: Man darf Verständnis nicht mit Rechtfertigung gleichsetzen. Ich kann die Motive nachvollziehen. Aber das bedeutet nicht, dass ich die Taten entschuldige. Man sagt: „Alles verstehen, heißt alles verzeihen“ sei die Mentalität des Teufels. Das hat etwas Wahres. Deswegen ist mir die Unterscheidung sehr wichtig.

ÖSTERREICH: Wie schaffen Sie es, bei den Gesprächen mit Kriminellen ganz sachlich zu bleiben?

Kastner: Alle Emotionen kann man in dieser Situation nie ganz ausschalten. Das muss ich auch nicht. Ich glaube auch nicht, dass sich der Mensch öffnen wird, wenn man als Roboter beim Gespräch sitzt. Man muss für das Gegenüber als Person greifbar werden, auf die er eingehen kann. Aber ich werte und urteile nicht. Das ist auch nicht mein Job.

ÖSTERREICH: Gab es bei den sechs Treffen mit Josef Fritzl Momente, wo er Sie schockiert hat?

Kastner: Schockiert ist ein zu heftiges Wort. Es war erstaunlich mitzubekommen, dass Fritzl die Fähigkeit besitzt, ganze Bereiche vollkommen wegzuschalten. Das war in sehr ausgeprägtem Maße vorhanden.

ÖSTERREICH: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Verbrechen dieser Dimension wieder passiert?

Kastner: Das ist genauso wahrscheinlich, wie dass ein Tsunami wieder über Tausende Menschen wegfegt. Der Fall hat aber wieder einmal gezeigt, dass es nicht egal ist, wie man seine Kinder erzieht.

ÖSTERREICH: Haben Sie Josef Fritzl die Augen öffnen können, dass sein Handeln abscheulich ist?

Kastner: Das habe ich ihm nicht sagen müssen, er wusste immer, dass das, was er getan hat, nicht recht war.

ÖSTERREICH: War seine Tochter seine Traumfrau?

Kastner: Ob sie seine Traumfrau war, weiß ich nicht. Die ungestörte Beziehung war vielmehr für ihn optimal.

ÖSTERREICH: Hat es Sie überrascht, dass sich Josef Fritzl in allen Punkten schuldig bekannt hat?

Kastner: Ich habe am Vorabend bei ihm eine Veränderung festgestellt, deren Auswirkung ich nicht einschätzen konnte.

ÖSTERREICH: Welche Veränderung war das?

Kastner: Josef Fritzl hat viel von seiner Selbstsicherheit eingebüßt.

ÖSTERREICH: Was halten Sie von der Todesstrafe?

Kastner: Gar nichts. Die Todesstrafe ist für mich die inakzeptable Anmaßung eines Rechts, das keiner hat.

ÖSTERREICH: Ihre Erzählungen klingen nach Stress, warum tun Sie sich dieses Amt an?

Kastner: Das Interessante am Beruf ist, dass man in Bereiche des Menschen vorstoßen kann, in die man sonst gar nicht reinkommt. Mir war schon im Kindergarten klar, dass ich Medizin studieren werde. Als Teenager bin ich in England erstmals auf True-Crime-Berichte gestoßen, die ich verschlungen habe. Nach meinem Studium bekam ich die Möglichkeit, als Konsiliarärztin im Gefängnis Garsten zu arbeiten. Ich war da, wo ich immer hinwollte.

ÖSTERREICH: Kennen Sie die TV-Serie CSI?

Kastner: Ich schalte den Fernseher nur sehr punktuell ein, etwa alle zehn Tage. Ich finde das reale Leben spannender als jeden Film.

ÖSTERREICH: Wie können Sie die Grausamkeiten, mit denen Sie konfrontiert sind, wegschalten?

Kastner: Auf der Onkologie zu arbeiten, ist sicherlich auch ein harter Job. Jeder muss seinen Weg finden. Ich koche gerne und habe gute Freunde. Und bei mir vergeht kein Tag ohne Bachs Musik. Sie entspannt mich.

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