Schmerzentstehung bei Opiatentzug geklärt

09.07.2009

Nach einer schnellen Absetzung von Morphinen bzw. Opioiden als Analgetika (Schmerzmittel) können erst recht Schmerzen auftreten. Qualvoll sind diese beim Entzug. Eine Arbeitsgruppe um Jürgen Sandkühler, Leiter des Zentrums für Hirnforschung der Medizinischen Universität Wien, veröffentlicht jetzt diesen Mechanismus klärende Forschungsergebnisse in der US-Wissenschaftszeitschrift "Science".

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Demnach führt der abrupte Entzug von Morphinen zu einer Langzeitpotenzierung der Erregungsübertragung im Rückenmark und so zur Schmerzverstärkung. Dieser Vorgang ist ganz ähnlich wie der bei der Entstehung des sogenannten "Schmerzgedächtnisses". Die Forscher konnten zeigen, wie man genau diese Schmerzverstärkung beim Entzug vermeiden könnte. Zum Beispiel durch das langsame Ausschleichen der Opioide. Die Erkenntnisse bieten auch eine exakte wissenschaftliche Basis für den Nutzen einer Substitutionstherapie von Opiatabhängigen - mit späterer langsamer Reduktion der Dosis.

Opioide werden wegen ihrer hohen Wirksamkeit und relativ guten Verträglichkeit weltweit bei Millionen von Patienten mit starken Schmerzen eingesetzt. Sandkühler: "Das Problem liegt aber darin, dass beim schnellen Absetzen - zum Beispiel nach Operationen - erneut starke Schmerzen auftreten können. Es kommt zu einer vermehrten Schmerzempfindlichkeit am ganzen Körper. Erst recht gilt das für Personen, die Opioide über Wochen oder Monate eingenommen haben."

Schmerzreize im Rückenmark verstärkt

Sowohl an Präparaten vom Rückenmark von Ratten in der Petrischale als auch im Tierversuch in tiefer Narkose konnten die Wissenschafter - die Erstautoren sind Ruth Drdla und Matthias Gassner - jetzt die ursächlichen Mechanismen aufklären. Demnach werden normalerweise harmlose Schmerzreize im Rückenmark verstärkt und dann als ungewöhnlich stark und als ausgesprochen unangenehm empfunden.

Der Grund dafür ist eine Langzeitpotenzierung der Übertragung von Schmerzsignalen über die Kontaktstellen von Nervenzellen, die sogenannten Synapsen. Mit einem modernen bildgebenden Verfahren, der 2-Photonen-Laserscanning Mikroskopie, konnten die Forscher zeigen, dass die Ursache dafür offenbar ein Anstieg der Konzentration von freien Kalziumionen in Nervenzellen des Rückenmarks ist. Sandkühler: "Dadurch kommt es im Endeffekt zu einer Potenzierung der Übertragungsstärke von Signalen von den schmerzleitenden C-Nervenfasern auf Nervenzellen des Rückenmarks."

Dagegen kann man etwas unternehmen. Strategien dafür haben die Wissenschafter ebenfalls getestet. Der Hirnforscher: "Einerseits kann man Opioide langsam ausschleichen. Die Dosis wird dabei ständig reduziert. Das verhindert die Entzugsschmerzen. Man kann aber auch durch Anwendung bestimmter Substanzen die Entzugsschmerzen selbst dämpfen. So lässt sich die Signalverstärkung im Rückenmark durch Medikamente hemmen, welche die sogenannten NMDA-Rezeptorkanäle blockieren."

Dazu gehören beispielsweise das Anästhetikum Ketamin oder das Alzheimermedikament Memantine. Die neuen Erkenntnisse aus der vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Grundlagenforschung können nun direkt den Schmerzpatienten zugutekommen und liefern ein weiteres Argument gegen den "kalten" Entzug von Opiatabhängigen. Die Resultate stützen auch die Substitutionstherapie mit Ersatzdrogen bei Abhängigen, in deren Rahmen einerseits eine langfristige soziale und gesundheitliche Stabilisierung angestrebt wird, man andererseits aber auch später langsam die Dosis reduzieren kann.

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