"Es ist wie in Tschernobyl"

Ärzte in den USA schreiben bereits ihr Testament

28.03.2020

"Man fühlt sich radioaktiv verseucht." Eine Ärztin aus Atlanta schildert den täglichen Horror in mitten der Corona-Krise.

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© Symbolbild (APA/AFP/ANGELA WEISS)
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Die USA wird derzeit vom Coronavirus überrollt. Binnen weniger Tage entwickelten sich die Staaten zum neuen Hotspot der Pandemie. Die Zahl der bestätigten Coronavirus-Infektionen in den USA ist am Freitag so stark angestiegen wie noch nie zuvor an einem Tag. Die Behörden meldeten rund 18.000 neue Erkrankungen. Bis zum Samstag wuchs die Zahl der bekannten Fälle auf mehr als 104.839. Damit verzeichnen die USA die meisten bestätigten Ansteckungen weltweit.

Die mit Abstand meisten Fälle wurden in New York registriert, wo fast die Hälfte aller Infektionen auftrat. Das Militär beobachtet aber auch die Entwicklung in Chicago, Michigan, Florida und Louisiana mit Sorge. In diesen Regionen könnte bald der Ruf nach Feldspitälern des US-Militärs kommen.

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Eine Station für "Drive-In"-Tests in Virginia.

Wie schlimm es in den US-Krankenhäusern wirklich zugeht, zeigt die Schilderung einer Ärztin aus Atlanta. Die Anästhesistin Michelle Au arbeitet im Emory St. Joseph Spital und ist für einen kritischen Teil während der Behandlung von Corona-Kranken zuständig. Sie muss all jene mit Atemprobleme intubieren. Damit setzt sie sich selbst einer Gefahr aus, da sie dem Mund der Kranken extrem nahe kommt und die während dem Intubieren oft husten oder spucken.

"Du bist dir in jedem Moment bewusst, wo du dich gerade befindest", erzählt sie der New York Times über die Behandlung der Virus-Patienten. "10 Sekunden. 20 Sekunden. 30 Sekunden. Du fühlst dich radioaktiv verseucht", sagt Au. "Da sind unsichtbare Risiken, die dich verfolgen".

Allerdings schaudert es ihr nicht nur wegen der Angst vor einer eigenen Infektion oder ihrer Kollegen. Besorgt ist sie vor allem wegen ihrer Familie. Zuhause warten ein Mann und drei Kinder auf Au. Deshalb hat sie eine Routine entwickelt. Jeden Tag bevor sie das Spital verlässt, geht sie duschen, Haare waschen und wechselt ihre Kleidung. Das gleiche macht sie auch, wenn sie daheim ankommt. Kein Keim soll auf ihrer Jeans, unter ihren Fingernägeln oder auf ihrem Haar sein.

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Seit zwei Wochen schläft sie im eigenen Haus im Keller. Ihr Mann - ein Chirurg - im Schlafzimmer. "Einer von uns muss gesund bleiben", sagt Dr. Au. Sollte es zum Ernstfall kommen, sind sie auch hier vorbereitet. Bereits letztes Wochenende haben sie und ihr Mann sich dazu entschlossen, vorzusorgen. Gemeinsam haben sie ihr Testament erneuert und niedergeschrieben, wer sich - im Falle ihres Todes - um die Kinder kümmern soll. "Wir haben jetzt vier Personen zur Auswahl. Die ersten beiden sind älter und somit in der Risikogruppe. Die dritte Person ist ebenfalls Arzt. Also haben wir nun eine vierte Person hinzugefügt, die nicht in eine Risikogruppe fällt. Als eine Art Sicherheitsnetz für den Ernstfall", erklärt Au. 

Derzeit frisst die Pandemie - nicht nur - aber vor allem die Menschen in medizinischen Berufen auf. Täglich einem so hohen Risiko ausgesetzt zu sein und dennoch hundert Prozent geben zu müssen, um Menschenleben zu retten, geht an die Substanz. Als Dr. Au zuletzt mit einem Freund aus der High School sprach und er fragte, wie es ihr abseits der Pandemie ginge, antwortete sie nur: "Es gibt nichts abseits davon."

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