Auch bei leichtem Verlauf: Chronisches Fatigue-Syndrom

08.09.2022

Seit Beginn der Pandemie wird vermutet, dass Covid-19 auch ein Chronisches Fatigue-Syndrom mit stark verminderter Leistungsfähigkeit, Abgeschlagenheit etc. auslösen kann. 

Zur Vollversion des Artikels
© Getty Images
Zur Vollversion des Artikels

Wissenschafter der Berliner Universitätsklinik Charite haben jetzt diese Annahme bestätigt. Es handelt sich um keine psychosomatische Störung, sondern um ein organisches Leiden. Ein wichtiges Diagnosekriterium könnte die Messung der Handkraft sein.

Übermäßige Ermüdbarkeit der Muskulatur

Die Wissenschafter von der Berliner Universitätsklinik und vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin haben ihre Erkenntnisse vor kurzem in "Nature Communications" publiziert (doi: 10.1038/s41467-022-32507-6). Das Chronische Fatigue-Syndrom ME/CFS ist charakterisiert durch eine Schwäche bzw. eine übermäßige Ermüdbarkeit der Muskulatur. Die Wissenschafter unter Carmen Scheibenbogen vom Institut für Medizinische Immunologie der Charite zeigte zunächst, dass ein Teil der Covid-19-Erkrankten auch nach mildem Verlauf das Vollbild einer solchen Erkrankung als Komplikation einer SARS-CoV-2-Infektion entwickelt.

"Bereits in der ersten Welle der Pandemie entstand der Verdacht, dass Covid-19 ein Trigger für ME/CFS sein könnte", wurde Carmen Scheibenbogen in einer Aussendung der Berliner Universitätsklinik zitiert. Die Expertin leitet das Charite Fatigue Centrum, das auf die Diagnostik von ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) spezialisiert ist.

Verbindung zwischen ME/CFS und Covid-19 

Das Zentrum wurde bereits im Sommer 2020 etabliert. Seither mehrten sich die Hinweise auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Covid-19 und den langfristigen Komplikationen. "Diese Annahme wissenschaftlich zu belegen, ist jedoch nicht trivial", erklärte die Expertin. "Das liegt auch daran, dass ME/CFS noch wenig erforscht ist und es keine einheitlichen Diagnosekriterien gibt. Durch eine sehr gründliche Diagnostik und einen umfassenden Vergleich mit ME/CFS-Betroffenen, die nach anderen Infektionen erkrankt waren, konnten wir jetzt aber nachweisen, dass ME/CFS durch Covid-19 ausgelöst werden kann."

Krankhafte Erschöpfungszustände

Für die Studie untersuchten die Wissenschafter 42 Personen, die sich mindestens sechs Monate nach ihrer SARS-CoV-2-Infektion an das Charite Fatigue Centrum gewandt hatten, weil sie noch immer stark an krankhaften Erschöpfungszuständen und einer eingeschränkten Belastungsfähigkeit in ihrem Alltag litten. Die meisten von ihnen konnten lediglich zwei bis vier Stunden am Tag einer leichten Beschäftigung nachgehen, einige waren arbeitsunfähig und konnten sich kaum noch selbst versorgen.

Schwere des Verlaufs nicht entscheidend

Die Schwere der überstandenen Covid-19-Erkrankung war offenbar nicht entscheidend. Die Berliner Universitätsklinik: "Während der akuten SARS-CoV-2-Infektion hatten nur drei der 42 Patienten ein Krankenhaus aufgesucht, aber keine Sauerstoffgabe benötigt. 32 von ihnen hatten einen nach der WHO-Klassifizierung milden Covid-19-Verlauf durchlebt, also keine Lungenentzündung entwickelt, in der Regel jedoch ein bis zwei Wochen lang starke Krankheitssymptome wie Fieber, Husten, Muskel- und Gliederschmerzen empfunden." Da die SARS-CoV-2-Infektion in der ersten Welle der Pandemie stattgefunden hatte, war keine der in die Studie eingeschlossenen Personen zuvor geimpft worden.

Laborwerte aussagekräftig

Etwa die Hälfte der untersuchten Patienten erfüllte nach ihrer SARS-CoV-2-Infektion die Kriterien für das Vollbild einer ME/CFS-Erkrankung. Neben der Erfassung der Symptome ermittelten die Wissenschafter verschiedene Laborwerte und setzten sie in Beziehung zur Handkraft der Erkrankten, die bei den meisten vermindert war. "Bei den Betroffenen mit ME/CFS korrelierte die Handkraft mit dem Hormon NT-proBNP, das von Muskelzellen bei zu schlechter Sauerstoffversorgung ausgeschüttet werden kann. Das könnte darauf hinweisen, dass bei ihnen eine verminderte Durchblutung für die Muskelschwäche verantwortlich ist", sagte Carmen Scheibenbogen. Die Konzentration von NT-proBNP im Blut ist ein Marker für eine Muskelschädigung und wird zum Beispiel seit Jahren auch dazu verwendet, eine akute Herzschwäche zu diagnostizieren.

Nur symptomatische Behandlung

Die neuen Erkenntnisse könnten zur Entwicklung spezifischer Therapien für das Post-Covid-Syndrom und ME/CFS beitragen. "Unsere Daten liefern aber auch einen weiteren Beleg dafür, dass es sich bei ME/CFS nicht um eine psychosomatische, sondern um eine schwerwiegende körperliche Erkrankung handelt, die man mit objektiven Untersuchungsmethoden erfassen kann", betonte Carmen Scheibenbogen. "Leider können wir ME/CFS aktuell nur symptomatisch behandeln."

Hauptsymptom ist "Postexertionelle Malaise"

ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) ist eine schwerwiegende Erkrankung, die zumeist durch einen Infekt ausgelöst wird und oft einen chronischen Verlauf nimmt. Hauptmerkmal ist die sogenannte "Postexertionelle Malaise", eine ausgeprägte Verstärkung der Beschwerden nach geringer körperlicher oder geistiger Belastung, die erst nach mehreren Stunden oder am Folgetag einsetzt und mindestens bis zum nächsten, aber oft auch mehrere Tage oder länger anhält. Sie ist verbunden mit körperlicher Schwäche, häufig Kopf- oder Muskelschmerzen sowie kognitiven und immunologischen Symptomen. Die Häufigkeit von ME/CFS in der Bevölkerung wurde weltweit bereits vor der Covid-19-Pandemie auf etwa 0,3 Prozent geschätzt. Als Auslöser für ME/CFS waren bisher vor allem virale Krankheitserreger wie das Epstein-Barr-Virus, das Dengue-Virus und Enteroviren bekannt. Auch unter den Personen, die sich 2002/2003 mit dem ersten SARS-Coronavirus infizierten, wurden ME/CFS-Fälle beobachtet.

Zur Vollversion des Artikels