Enrico Lübbe-Inszenierung

Sex & Gewalt: "Urfaust" im Volkstheater

20.10.2012

"Faust" als Ruck-Zuck-Tragödie mit nacktem Frauenchor und einem flotten Dreier.

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© APA/HANS KLAUS TECHT
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Nackte Frauen, wohin das Auge schaut. Die pure Fleischlichkeit in Griffweite. Da kommt Faust ganz schön ins Stottern. Doch die neun blonden Grazien, die der linkische Pulli-Träger eine nach der anderen mit seinem bekannten Aufriss-Schmäh anspricht ("Schönes Fräulein, darf ich's wagen..."), reagieren alle mit Ohrfeigen. Kurz darauf sind die Ladys auch bekleidet recht schlagkräftig. Endlich beißt eine an und zeigt sich geschmeichelt. Der "Faust" kann beginnen. Der "Urfaust". 65 Minuten dauert er in Enrico Lübbes Volkstheater-Inszenierung, die gestern Abend Premiere hatte. Und so rasch, wie das Geschehen über die Bühne huscht, dürfte man diese Stunde auch wieder vergessen.

Lübbe-Interpretation
Faust und Mephisto sind eins, so wie Jekyll und Hyde. Trau-mich-nicht und Trau-dich-doch. Fäustchen und Panzerfaust. Das Böse existiert nur durch das Gute und umgekehrt. Das ist der Kern von Lübbes Interpretation, die in der ohnedies schon schlanken, spät entdeckten Vor-Fassung des "Faust"-Dramas alles Beiwerk beiseite lässt. Im "Urfaust" liegt dies nahe, da geht's ohne Teufelspakt und Larifari gleich zur Sache. Bei Lübbe liegt Mephisto selbst an Gretchens Seite, wenn er ihr das Fläschchen andient, mit dem die lästige Mutter ruhig gestellt werden soll, und wenn sich am Ende Faust erschießt, wird es auch Mephisto nicht überleben.

Fotter Dreier
Das Ambiente ist zeitlos-reduziert. Das neue Welt-Modell ist offenbar würfelförmig, denn wie schon Harald Thor bei "Kasimir und Karoline" in der Josefstadt stellt auch Ausstatterin Michaela Barth einen alles dominierenden Kubus bereit - diesmal nach vorne und hinten offen, drehbar, und mit einer Mischung aus hölzernen und transparenten Wandteilen durchaus reizvoll. Rock-Musik vom Band und ein schönes Beleuchtungskonzept tragen dazu bei, den Boden für einen flotten Dreier aufzubereiten: Faust-Mephisto-Gretchen.

Denis Petkovic strebt als verklemmter Faust noch gar nicht nach Wissenserwerb, sondern bloß nach Erfolg bei der Weiblichkeit. Günter Franzmeier als Fausts draufgängerisches Alter Ego Mephisto ist ein zynischer, lässiger Strizzi, der weiß, welche Gesetze die Welt regieren, und der die entscheidenden Dinge ganz beiläufig verrichtet. Margaretes aus dem Krieg heimkehrender Bruder Valentin (Robert Prinzler) bekommt nur ein paar Sätze, ehe er en passant abgeknallt wird.

Die heuer für den Nachwuchs-"Nestroy" nominierte Nanette Waidmann legt ihre Margarete (ebenso wie Heike Kretschmer ihre Marthe) relativ traditionell an, ist aber wunderbar intensiv, zwischen Angst- und Lustschreien liegt eine solche Gier nach Leben, dass sie dem ewigen Zauderer Faust lieber selbst an die Wäsche geht, als noch weiter zu warten. Und die Gretchen-Frage wird so zwischendurch herausgesprudelt, als man schon längst dabei ist, in Windeseile die Kleider abzulegen. Nina Horváths Lieschen ist dagegen eine selbstbewusste, heutige Frau, bei der die Möglichkeit einer ganz anderen Inszenierung aufblitzt.

Gewalt, Blut & nackte Haut
An der Bühne und an den Schauspielern liegt es also nicht, dass die "Faust"-Stunde relativ spurlos an einem vorübersaust. Doch vom Nackten-Defilee bis zum Blutbad - die drastischen Bilder, die Enrico Lübbe aneinanderreiht, sind glitzernde, schillernde Oberfläche. In die Tiefe wird nirgends geblickt. Wo man normalerweise nach Rotstift und Straffung ruft, hätte man sich diesmal gelegentlichen Rhythmuswechsel und ein Innehalten beim Wesentlichen gewünscht. So gesehen hat der Chemnitzer Schauspieldirektor, der in der nächsten Saison das Leipziger Schauspiel übernehmen wird, mit diesem "Urfaust" doch etwas Ungewöhnliches geschafft - die Umdrehung der üblichen Verhältnisse. Er hätte sich vielleicht noch eine halbe Stunde mehr Zeit nehmen sollen - eine Zeit, die anderswo ausreicht, ein 0:4-Rückstand aufzuholen. Der Applaus war jedenfalls herzlich und der restliche Abend mild.

(APA)

Info: Nächste Vorstellungen: 22., 24., 31.10., 1., 6.11.; Karten: 01 / 521 11-400, http://www.volkstheater.at

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