Interview
Afghanistans Botschafterin Manizha Bakhtari: "Das Leid der Menschen gibt mir Hoffnung"
16.08.2025Die neue Doku „Die letzte Botschafterin“ begleitet Manizha Bakhtari bei ihrem riskanten Kampf für die Rechte von Mädchen und Frauen in Afghanistan. Jetzt spricht sie über ihre Arbeit und Hoffnung.
Vor vier Jahren haben die Taliban die Macht in Afghanistan ergriffen. Seither befindet sich Manizha Bakhtari (52), afghanische Botschafterin in Wien, in einer bizarren Situation: Sie vertritt ein Land, dessen alte Regierung geflohen ist und dessen neue international nicht anerkannt wird. Ihre Arbeit setzt die Diplomatin trotz aller Hürden fort und kämpft unermüdlich für ihr Heimatland und die Frauen Afghanistans, die seither aus dem öffentlichen Leben verdrängt wurden. Davon erzählt die Doku „Die letzte Botschafterin“ (neu im Kino). Dafür folgten ihr die Kameras drei Jahre lang. In MADONNA spricht Manizha Bakhtari über den Film, ihre Arbeit und Hoffnung.
Als Natalie Hala mit der Idee auf Sie zukam, eine Dokumentation über Ihre Arbeit zu drehen – was war Ihr erster Gedanke?
Manizha Bakhtari: Ich war zögerlich. Aber Natalie war ziemlich hartnäckig. Wir haben einige Gespräche geführt. Ich bin von Natur aus ein eher zurückhaltender Mensch, und die Vorstellung, eine Kamera würde mich begleiten, war nicht angenehm – besonders angesichts der Unsicherheit und des Schmerzes, den ich damals erlebte. Aber Natalie ist sehr entschlossen, und wir teilen Werte wie Gerechtigkeit, Menschenwürde, Menschenrechte und Ehrlichkeit. Das ließ mich meine Entscheidung überdenken. Ich erkannte auch die Kraft des Geschichtenerzählens. Es gibt viele Berichte und Artikel über Afghanistan – aber wenn man eine Geschichte erzählt, hat sie eine Seele, und sie berührt die Menschen.
Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie den Film zum ersten Mal sahen?
Bakhtari: Als ich das Rohmaterial zum ersten Mal sah, habe ich geweint. Einige Ausschnitte zeigten mich in meinen frühen Tagen als Dozentin an der Universität Kabul, während meiner Zeit als Botschafterin in Norwegen oder bei Familientreffen. Diese Szenen bewahren die Erinnerung an ein Afghanistan, das lebendig, hoffnungsvoll und voller Zukunft war. Gleichzeitig sehen wir ein anderes Afghanistan, in dem die Taliban auf den Straßen sind, die Macht übernehmen und Mädchen verbieten, das Haus zu verlassen.
Glauben Sie, dass der Film uns daran erinnern kann, wie sehr die Menschen in Afghanistan leiden?
Bakhtari: Ich glaube, diese Dokumentation leistet großartige Arbeit, um Aufmerksamkeit zu schaffen. Afghanistan ist etwas in Vergessenheit geraten und macht keine Schlagzeilen mehr. Der Diskurs über Afghanistan ebbt ab. Diese Dokumentation richtet sich an die Welt und lädt die Menschen zum Nachdenken ein – zum Handeln. Viele glauben, in Afghanistan herrsche Frieden. Leider werden die Anliegen von Frauen als zweitrangig betrachtet – dabei sollten sie an erster Stelle stehen. Ja, es gibt viele Konflikte auf der Welt, die Aufmerksamkeit verdienen – das erkenne ich an. Aber Afghanistan darf nicht vergessen werden.
Wie sieht Ihre Arbeit als Botschafterin derzeit aus?
Bakhtari: Technisch gesehen bin ich weiterhin Botschafterin der Islamischen Republik Afghanistan und vertrete das afghanische Volk. Ich bin der österreichischen Regierung sehr dankbar, dass sie mir das ermöglicht. Natürlich kann ich gewisse Aufgaben nicht mehr erfüllen. Die Titel haben nicht mehr die gleiche Klarheit wie früher, und ich habe keine Regierung mehr, von der ich Anweisungen erhalten könnte. Das macht meine Arbeit sehr schwierig. Ich vertrete Afghanistan in internationalen Organisationen mit Sitz in Wien. Wir haben eine kleine konsularische Abteilung und kümmern uns um administrative Angelegenheiten. Ich spreche im Namen meines Volkes – insbesondere der Frauen, die über Nacht zum Schweigen gebracht wurden.
Was gibt Ihnen Hoffnung?
Bakhtari: Das Leid der Menschen in meinem Land gibt mir Hoffnung. Das klingt widersprüchlich – aber wenn ich sehe, dass Frauen aus fast allen Berufen verdrängt wurden, dass unsere Mädchen nicht zur Schule gehen dürfen, dass Afghanistan ein System der Geschlechterapartheid erlebt – dann gibt mir das Kraft weiterzumachen. Wenn die Frauen in Afghanistan inmitten von Unterdrückung aufrecht stehen, warum sollte ich aufgeben? Wer bin ich, dass ich aufgeben dürfte? Ich schöpfe meine Stärke aus ihnen – und aus all den Menschen weltweit, die unsere Sache unterstützen.
Sie sprechen von Geschlechterapartheid in Afghanistan. Können Sie diesen Begriff erklären?
Bakhtari: Der Begriff stammt ursprünglich aus dem Apartheidsystem in Südafrika. Wenn man das Wort „Rasse“ durch „Geschlecht“ ersetzt, erkennt man, dass genau das in Afghanistan geschieht. Frauen werden systematisch ausgeschlossen. Sie dürfen nicht zur Schule gehen, nicht studieren, nicht arbeiten, an keinem politischen, sozialen oder öffentlichen Leben teilnehmen. Sie dürfen nicht ins Fitnessstudio oder in Parks gehen, und sie benötigen einen männlichen Vormund, der sie begleitet. Sie müssen sich so kleiden, wie es die Taliban anordnen. All das sind Merkmale einer Geschlechterapartheid. Die Taliban haben zudem etwa 45 bis 50 Dekrete erlassen, die sich gezielt gegen Frauen richten. Es ist ein gesamtes System, das darauf abzielt, Frauen aus dem öffentlichen Leben zu löschen.
Sie sagten, die Taliban hätten Angst vor Frauen. Warum?
Bakhtari: Die Taliban haben eine sehr eigene Ideologie, wenn es um Frauen geht. Sie glauben nicht, dass Frauen gleichwertige Menschen sind. Sie sehen Frauen als minderwertig an und wollen keine starken, selbstbewussten Frauen. Für sie sind Frauen etwas, das Gott erschaffen hat, um Männer zu trösten. Ihre Hauptaufgabe sei es, Kinder zu erziehen und den männlichen Familienmitgliedern zu gehorchen. Natürlich fürchten sie starke, gebildete Frauen – denn solche Frauen stellen ihre Existenz, ihre Politik und ihre Herrschaft infrage.
Wie war Afghanistan vor der Machtübernahme der Taliban?
Bakhtari: Ich sage immer: Es gibt zwei Realitäten Afghanistans. Leider ist Afghanistan international fast ausschließlich als armes Land mit Terrorismus, Drogenproblemen und Armut bekannt. Aber es gibt ein anderes Afghanistan, das kaum jemand kennt: ein Land mit Literatur, Kunst, Mitgefühl und Würde. Diese Seite fehlt in den Medien. Afghanistan ist ein großes Land mit 34 Millionen Menschen und vielen verschiedenen kulturellen und ethnischen Gruppen. Auch diese andere Seite Afghanistans sollte gesehen und erinnert werden – sie ist beinahe vergessen.
Was hat Sie so stark gemacht?
Bakhtari: Ganz ehrlich: Ich fühle mich nicht besonders stark oder mutig. Ich habe meine Höhen und Tiefen. Es gibt Tage, an denen ich mich schwach, enttäuscht und verloren fühle – und dann wieder gute Tage. Aber ich habe ein starkes Verantwortungsbewusstsein und einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Das hält mich aufrecht und lässt mich hoffen. Wenn ich sehe, wie Millionen Mädchen und Frauen in Afghanistan sich auf unterschiedlichste Weise gegen die Taliban stellen, sage ich mir: „Okay – wer bin ich, dass ich aufgebe?“ Ich muss weitermachen. Ich muss meine Plattformen nutzen, um ihre Stimmen zu verstärken. Das Thema Frauen und Mädchen liegt mir besonders am Herzen – das ist der Hauptgrund, warum ich meinen Kampf fortsetze.
Wie schwierig ist es, mit den Frauen, die sie unterstützen in Kontakt zu bleiben?
Bakhtari: Aufgrund der Armut besitzen viele Menschen weder Smartphones noch Laptops. Zum Glück können die Taliban das Internet noch nicht kontrollieren. Die Menschen können soziale Medien und Apps wie WhatsApp frei nutzen. Es ist leicht, mit ihnen in Kontakt zu bleiben, aber viele haben Angst, offen zu sprechen. Wenn sie soziale Medien nutzen, zögern sie, über die Taliban zu sprechen. Falls sie doch etwas sagen, könnten die Taliban vor ihrer Tür auftauchen. Es ist schwierig, ein ehrliches Gespräch zu führen, weil sich die Menschen selbst zensieren.
Was sehen Sie als Ihre größten Erfolge?
Bakhtari: Ich bin sehr stolz auf meine Arbeit in den vergangenen vier Jahren. Ich habe meine Stimme gut eingesetzt – gemeinsam mit Kolleginnen und Frauen auf der ganzen Welt, mit unseren weiblichen Führungspersönlichkeiten, ist es uns gelungen, Teile der Welt davon zu überzeugen, die Taliban nicht anzuerkennen und das Gespräch über die Rechte von Frauen am Leben zu erhalten. Ich betrachte diesen Erfolg nicht als persönlichen, sondern als kollektiven, als Teamleistung. Außerdem habe ich zwei Romane über das Leid von Frauen veröffentlicht. Derzeit beende ich meinen dritten Roman, und auch hier geht es wieder um Frauen. Stolz bin ich auch auf mein „Daughters Programme“.
Wie können Menschen Ihre Arbeit unterstützen?
Bakhtari: Das hängt vom Bereich ab. Handelt es sich um Politik und Diplomatie: indem man die Taliban nicht anerkennt und sich nicht politisch mit ihnen einlässt. Beim „Daughters Programme“ haben wir eine Website, auf der man sehen kann, wie das Programm funktioniert. Man kann helfen, indem man ein Mädchen in Afghanistan finanziell unterstützt, von Frauen geführte Initiativen fördert, unseren Frauen zuhört, ihre Stimmen verstärkt und einfach an unserer Seite steht – indem man Raum für uns schafft.
Sie sagten, es gibt keinen Frieden in Afghanistan. Wann wird er erreicht sein?
Bakhtari: Wir werden Frieden haben, wenn Gerechtigkeit wiederhergestellt ist, wenn wir gleiche Rechte haben und wenn das Land eine funktionierende Verfassung und Rechtsstaatlichkeit besitzt. Derzeit ist Afghanistan das einzige Land der Welt, das ohne Verfassung regiert wird.