Rutte: Einigungschancen unter 50 Prozent

Harte Brocken zu Beginn des EU-Gipfels - Kurz "sehr optimistisch"

17.07.2020

Rutte: Einigungschancen unter 50 Prozent - Merkel erwartet ''sehr schwere Verhandlungen'' - Michel sorgt mit falschen Zahlen für Spekulationen - Visegrad-Staaten mit eigenen Forderungen.

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© Getty Images/APA
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Brüssel/Wien. Die EU-Staats- und Regierungschefs haben sich gleich zum Auftakt ihres Budget-Sondergipfels die harten Brocken vorgenommen. Wie aus EU-Kreisen verlautete, ging es in der ersten Runde am Freitag in Brüssel um die Frage der Nettozahlerrabatte, die Größe des Konjunkturpakets und die Bedingungen für Krisenhilfen. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hatte sich zuvor "sehr optimistisch" gezeigt.
 
Die Vertreter der 27 Mitgliedsstaaten waren am Freitagvormittag im Ratsgebäude zusammengekommen, um über ein 1,8 Billionen Euro schweres Finanzpaket zu beraten, bestehend aus einem Corona-Hilfspaket und dem EU-Mehrjahresbudget. Anders als bei früheren Budgetverhandlungen ziehen diesmal die großen Mitgliedsstaaten an einem Strang, während eine Gruppe kleinerer Nettozahler rund um Österreich Widerstand leistet.
 
Kurz verbreitete Optimismus. Es gebe noch Differenzen, diese seien jedoch "nicht unüberwindbar", sagte der Bundeskanzler vor dem Beginn des Gipfels. Er hoffe auf einen Kompromiss, "wenn nicht bei diesem Gipfel, dann bei einem nächsten", so Kurz. Gleichzeitig rechnet der Bundeskanzler mit "intensiven und langen Verhandlungen". Die Unterschiede in den Positionen der Mitgliedstaaten seien noch groß.
 
"Ich habe Zeit, ich bleibe gerne länger", betonte der Bundeskanzler mit Blick auf Spekulationen, dass sich der bis Samstag angesetzte Gipfel auch in den Sonntag ziehen könnte. "Wir können uns schon nächste Woche wieder treffen", fügte Kurz hinzu. Auch in zwei Wochen könnte ein neuerliches Treffen stattfinden.
 

Mehr Rabatte für Nettozahler gefordert

Inhaltlich forderte Kurz "noch ein bisschen mehr" bei den Rabatten für die Nettozahler. Nach dem aktuellen Entwurf soll Österreich jährlich einen Rabatt von 237 Millionen Euro auf seinen EU-Beitrag bekommen. Beim EU-Aufbaufonds müssten zukunftsorientierte Projekte finanziert werden, forderte Kurz. Er nannte hier wieder die Bereiche Ökologisierung und Digitalisierung. Außerdem wolle Österreich eine "Redimensionierung" beim Volumen von derzeit 750 Milliarden Euro, insbesondere bei den Zuschüssen, die derzeit 500 Milliarden Euro schwer wären.
 
EU-Ratspräsident Charles Michel hat für den Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-27 (MFF bzw. MFR) ein Volumen von 1.074 Milliarden Euro vorgeschlagen. Das liegt unter dem Vorschlag der EU-Kommission von 1,1 Billionen Euro. Es wird erwartet, dass Michel am Nachmittag einen neuen Verhandlungsvorschlag unterbreitet. Für Spekulationen sorgte der Belgier, weil er in einem Newsletter einen Gesamtbetrag von 1.750 Milliarden Euro für Mehrjahresbudget und Konjunkturpaket nannte, also um 74 Milliarden Euro weniger als sein aktueller Vorschlag. EU-Diplomaten äußerten am Freitag die Erwartung, dass beim Aufbaufonds weiter gekürzt werde.
 
Der Bundeskanzler traf vor dem EU-Gipfel noch mit seinen Kollegen der Nettozahlerallianz der "Sparsamen Vier" (Niederlande, Schweden, Dänemark, Österreich) zusammen. Das Treffen fand im Delegationsbüro der Niederländer statt. Die "Sparsamen Vier" seien "sehr gut abgestimmt", hieß es. Die EU funktioniere für kleine und mittlere Länder nur, wenn sie auch Partner für ihre Positionen finden. "Wir freuen uns, dass es Bewegung in unsere Richtung gibt." Zu Details der unterschiedlichen Verhandlungspositionen äußerte sich Kurz nicht. So verlangt der niederländische Premier Mark Rutte etwa eine nationale Vetomöglichkeit bei den Auszahlungen aus dem Recovery Fonds, was von den anderen EU-Staaten abgelehnt wird.
 

Rutte: Einigungschancen geringer als 50 Prozent

Rutte zeigte sich zum Auftakt des Gipfels pessimistischer als Kurz. Die Chancen für einen Kompromiss beim EU-Gipfel seien geringer als 50 Prozent, erklärte er. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, deren Land in diesem Halbjahr die EU-Ratspräsidentschaft führt, äußerte die Erwartung auf "sehr, sehr schwere Verhandlungen". Der slowenische Ministerpräsident Janez Janša, der gemeinsam mit Kurz nach Brüssel gereist war, sagte, dass "die große Mehrheit" der Gipfelteilnehmer eine Einigung wolle. Er selbst wäre aber zufrieden, wenn diesmal die wichtigsten Punkte geklärt werden könnten und die Details bei einem weiteren Gipfel noch vor Monatsende, sagte Janša. Der gemeinsame Flug von Janša und Kurz hatte sich ergeben, weil der Kanzler diese Woche im an Slowenien angrenzenden Bundesland Kärnten auf Urlaub gewesen war.
 
Aufgelockert wurde die erste Zusammenkunft der EU-Staats- und Regierungschefs seit fast einem halben Jahr durch spontane Geburtstagsfeiern. So bekam die deutsche Kanzlerin Merkel Geschenke zu ihrem 66. Geburtstag, unter anderem mehrere Flaschen Weißwein vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Auch der portugiesische Premier António Costa nahm Glückwünsche zu seinem 59. Geburtstag entgegen. Frisch vermählt reiste die dänische Regierungschefin Mette Fredriksen nach Brüssel. Sie hatte ihre eigentlich für Freitag geplante Hochzeit auf Mittwoch vorverlegt. Fast alle EU-Chefs hielten sich bei dem Treffen, das im größten Saal des Ratsgebäudes mit reduzierten Delegationen stattfand, an die Coronaregeln. Der bulgarische Premier Bojko Borissow wurde aber von Merkel gerüffelt, weil seine Nase aus der Maske hervorlugte.
 
Zusätzlich zu den "frugalen Vier" sorgten beim Gipfel auch die Visegrad-Staaten Polen, Tschechien und Ungarn mit eigenen Forderungen für Aufmerksamkeit. So drängte Ungarn darauf, das laufende Rechtsstaatsverfahren für eine Zustimmung zum EU-Konjunkturpaket zu beenden. Kurz sagte dazu, er erwarte sich durch diese Wortmeldung "eine neue Dynamik in der Debatte". Jene, die auf Kriterien bisher keinen Wert gelegt hätten, auch in Österreich, könnten dadurch ihre Position überdenken. Seine Position sei unverändert, "Konditionalitäten sind sinnvoll". Dabei betonte Kurz vor allem die Zweckbindung der EU-Mittel. "Relevanter als die Frage, ob und wie viel Geld man in die Hand nimmt, ist die Frage, wofür und wo wird es ausgegeben."
 
Polen forderte nachdrücklich, die ungeliebten Rechtsstaatsbedingungen für die Ausschüttung von EU-Geldern wegzubekommen. Ministerpräsident Janusz Morawiecki sagte, er könne diesem Vorschlag nicht zustimmen. Das Verknüpfen der Aufbauhilfen mit einem Rechtsstaatsmechanismus sei willkürlich. Der tschechische Ministerpräsident Andrej Babiš wiederum verlangte Änderungen beim geplanten Verteilschlüssel für die EU-Coronahilfen. "Ich habe damit ein prinzipielles Problem", sagte der Gründer der populistischen Partei ANO am Freitag der Agentur CTK.
 

Wirbel um Kanzler-Sager

Aussagen von Kurz über die südlichen Nachbarn sorgten indes im Netz für Aufsehen. Kurz forderte vor Beginn des Gipfels erneut Reformen für die von der Corona-Pandemie besonders getroffenen Empfängerländer. Dabei sprach Kurz von "notwendigen Reformen in Staaten, die schlicht und ergreifend in ihren Systemen kaputt sind oder zumindest große Probleme haben". Ohne diese Reformen würden die Hilfen verpuffen, warnte er. Die Politikwissenschafterin Ulrike Guerot warf Kurz auf Twitter Arroganz vor. "Ich bin schockiert, auf welchem Niveau wir in Europa miteinander reden. Die Europäische Freundschaft wird zur Farce, die EU ist so nicht zu machen und zu haben", schrieb sie.
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