"Sommer 1972":

Jungregisseurin entdeckt ihre Kindheit

10.04.2012

Wilma Calisir geht in Dokumentarfilm der Geschichte ihrer Eltern nach.

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© allegrofilm
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Beinahe jede zweite Ehe in Österreich wird geschieden. Dabei hat die eine oder andere davon richtig romantisch angefangen. So auch jene der Eltern von Regisseurin Wilma Calisir, die in ihrem Dokumentarfilm "Sommer 1972" dem schicksalhaften Aufeinandertreffen ihrer niederösterreichischen Mutter und ihres türkischen Vaters nachgeht. Während viele Fragen rund um die gescheiterte Ehe unbeantwortet bleiben, entsteht ein persönliches, charmantes Bild von Generationen, Familie und Fremde. Nach seiner Premiere bei der diesjährigen Diagonale läuft der Film ab Freitag (13. April) regulär im Kino.

Weil Osman der einzige Blonde war, sei er ihr damals aufgefallen, erzählt Ulrike Calisir. Damals, im August 1972, im Alter von 24 Jahren im Türkei-Urlaub. Sie verliebte sich, er zog zu ihr nach Waidhofen/Ybbs, sie heirateten gegen den Wunsch von Ulrikes Eltern, bekamen die Töchter Doris und Wilma. Als Wilma fünf Jahre alt war, folgte die Scheidung. An ein Familienleben erinnert sie sich heute kaum, ein Bezug zum türkischen Stammbaum fehlt ihr ebenfalls. Erst mit 17 nahm ihr Vater sie mit zu seiner Familie in die Türkei. Knapp 15 Jahre später reist Wilma mit ihrer Schwester und ihrem türkischen Onkel Irfan wieder hin, um ihre eigenen Wurzeln zu ergründen.

Von Einzelgesprächen mit Mutter, Vater und Onkeln wechselt die junge Filmemacherin in ihrem Langfilmdebüt mal zu Bildern vom Road-Trip gen Türkei, dann zu zahlreichen Blicken ins Familienalbum. Dass in dem stellenweise langatmigen 90-Minüter Fragen rund um die gescheiterte Ehe ihrer Eltern sowie nach einem möglichen türkischen Element in ihrer Identität größtenteils unbeantwortet bleiben, bezeichnet Wilma Calisir als bewusst gewählte Form, die ihre Familie widerspiegle. Wie ein "Spinnennetz" baue sie ihre Familiengeschichte auf, "und wie bei jedem Netz gibt es Löcher, Leerstellen, unbeantwortete Fragen". So mutet die Doku aber größtenteils als emotionales Projekt in eigener Sache, denn als zusehertaugliche Abendgestaltung an.

Umso berührender sind die wenigen Momente, in denen Calisir ebenso wie der Zuseher kurzzeitig einen tieferen Einblick bekommt. Während Ulrike das Ende ihrer Ehe damit begründet, dass sie irgendwann nicht mehr "wie eine Maschine" funktionieren wollte, lässt die Antwort ihres Ex-Manns erahnen, wie lieblos die Ehe gewesen sein muss. "Deine Mutter hat mich öfter gefragt, ob ich sie liebe. Ich habe dann gesagt: Liebe? Was meinst du damit? Liebe ist für mich etwas, das man nicht erreichen kann." Seine Mentalität sei ganz einfach anders gewesen, Liebesbekundungen und Zuneigung in der Öffentlichkeit waren ihm zuwider. Der Film zeigt so auch immer wieder Mentalitätsunterschiede und Sprachbarrieren auf und ist ein Zeugnis der sich verändernden Generationen - auch wenn die 1981 geborene Regisseurin das Thema Einwanderung nur streift. "Ich bin ja keine Migrantin, sondern ein niederösterreichisches Kleinstadtkind. Trotzdem spielt das Thema eine Rolle", sagt sie.

Ein großer Gewinn für den Film ist Wilmas Onkel, der in zahlreichen Wortmeldungen die wohl noch immer in Österreich vorherrschende Skepsis gegenüber dem Fremden deutlich macht. Osman sei stets "barfuß" durch das Haus gelaufen, "das hat man einfach nicht gemacht". Die ganze Familie habe anfangs gehofft, der Türke würde nur auf Besuch bleiben und bald wieder fahren. So groß dann die Angst war, die türkische Mentalität könne sich auf die Kinder auswirken, die doch "mit christlicher Erziehung und unserer Schulbildung" herangezogen werden sollten, so groß war dann aber auch der Unmut bei der Scheidung. Ein Kind brauche eine stabile Familie - auch wenn diese türkisch-österreichisch ist.

Auch das Filmprojekt hat nicht alle gewünschten Fragen klären können, sagte Wilma Calisir nach einem Screening bei der Grazer Diagonale. Weiter wühlen wolle sie aber nicht. Zumindest eines habe ihr die Suche offenbart: Es gebe Millionen Varianten von Familie. Und auch wenn diese ihr nie greifbar war: "Ja, wir sind eine Familie."

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