Obamas Siegesrede

"Wandel ist nach Amerika gekommen"

05.11.2008

In einer frei gehaltenen und gleichzeitig emotionalen wie rhetorisch brillanten Rede beanspruchte Obama den Erfolg nicht für sich, sondern widmete ihn dem amerikanischen Volk: "Der Sieg gehört Euch!"

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"Er gehört Euch, denn die Kampagne begann nicht in den Salons von Washington, wie sonst üblich, sondern in euren Wohnzimmern und Hinterhöfen. Der Wandel ist nach Amerika gekommen!" Das sei "wieder eine Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk", zitierte Obama eine entsprechende Passage aus der berühmten Gettysburg-Erklärung von Präsident Abraham Lincoln von 1863.

Die Euphorie werde aber nicht für immer anhalten. "Es wird Rückschläge geben, aber ich werde als Präsident immer ehrlich sein vor den Herausforderungen, denen wir begegnen müssen."

In seiner Rede, die vom Publikum immer wieder mit "Yes, we can!"-Rufen unterbrochen wurde, wiederholte Obama mehrmals die Notwendigkeit, auf dem Wandel zu beharren. "Das ist unsere einzige Chance, wir brauchen einen neuen Geist, einen neuen Patriotismus, wir müssen noch härter arbeiten. Wir können nicht auf der einen Seite eine florierende Wall Street haben, während die Main Street (die einfachen Leute - Anm.) leidet", bezog sich Obama auf die nach wie vor bedrohliche Finanzmarktkrise.

Der Sieg der Demokraten solle das Land nun nicht entzweien, meinte der neue US-Präsident und rief zu nationalem Zusammenhalt und zu Demut auf. "Wir sind nicht Feinde, sondern Freunde!"

"Als Präsident höre ich Eure Stimmen, aber ich brauche auch Eure Hilfe, denn die Morgendämmerung eines neuen Führungsstils ist da", so Obama.

Amerika sei immer eine führende Nation gewesen. Heute strahle der "Leuchtturm Amerika" mehr als je zuvor, weil er "wieder die echten Werte ausstrahlt, nämlich Demokratie, Freiheit, Chancengleichheit und Hoffnung."

Gekonnt setzte die TV-Regie während der Rede Obamas emotionale Akzente: So wurde immer wieder ein weinender, ergriffener Jesse Jackson gezeigt. Der prominente Baptisten-Prediger ist einer der Anführer der afroamerikanischen Gemeinschaft und war der erste Afroamerikaner, der sich um die US-Präsidentschaft bewarb. Er wurde 1984 Dritter bei den Vorwahlen der Demokraten.

DIE REDE IM WORTLAUT:

Nach seinem Wahlsieg in den USA hat Barack Obama vor mehr als 100.000 Menschen in Chicago Leitlinien seiner Präsidentschaft aufgezeigt. Seine Rede hat nach einer inoffiziellen Übersetzung der Nachrichtenagentur AP folgenden, leicht gekürzten Wortlaut.

"Hallo, Chicago. Wenn es da draußen irgendjemand gibt, der noch zweifelt, dass Amerika ein Ort ist, wo alles möglich ist, der sich noch fragt, ob der Traum unserer Gründer heute lebendig ist, der Fragen zur Kraft unserer Demokratie aufwirft, hat heute eine Antwort bekommen. Es ist die Antwort, die von den Warteschlangen vor Schulen und Kirchen gegeben wird, in Zahlen, die diese Nation nie gesehen hat, von Leuten, die drei Stunden und vier Stunden gewartet haben, viele zum ersten Mal in ihrem Leben, weil sie glaubten, dass es dieses Mal anders sein muss, dass ihre Stimmen diesen Unterschied ausmachen können.

Es ist die Antwort, die von Jungen und Alten gegeben wird, von Reichen und Armen, Demokraten und Republikanern, Schwarzen, Weißen, Hispanics, Asiaten, Indianern, Schwulen und Heterosexuellen, Behinderten und Nichtbehinderten. Von Amerikanern, die der Welt eine Botschaft geschickt haben, dass wir keineswegs nur eine Ansammlung von Einzelmenschen oder eine Kollektion von roten und blauen Staaten sind. Wir sind die Vereinigten Staaten von Amerika und werden das immer sein. (...)

Es hat eine lange gedauert, aber heute Abend ist der Wandel in Amerika angekommen - weil wir es geschafft haben am Datum dieser Wahl in diesem entscheidenden Augenblick. Etwas früher an diesem Abend habe ich einen außergewöhnlich freundlichen Anruf von Senator (John) McCain erhalten. Senator McCain hat lange und hart in diesem Wahlkampf gekämpft. Und er hat noch länger und härter für das Land gekämpft, das er liebt. Er hat Opfer für Amerika ertragen, die sich die meisten von uns noch nicht einmal im Ansatz vorstellen können. Uns geht es besser dank des Dienstes, den dieser tapfere und selbstlose Führer geleistet hat. Ich gratuliere ihm, ich gratuliere Gouverneurin (Sarah) Palin für alles, was sie erreicht haben. Und ich freue mich darauf, mit ihnen zusammenzuarbeiten, um in den kommenden Monaten das Versprechen dieser Nation zu erneuern.

Ich will meinem Partner auf dieser Reise danken, einem Mann, der mit ganzem Herzen im Wahlkampf dabei war (...), dem gewählten Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten, Joe Biden. Und ich würde heute Abend nicht hier stehen ohne die unablässige Unterstützung meiner besten Freundin in den vergangenen 16 Jahren, dem Fels unserer Familie, der Liebe meines Lebens, der nächsten First Lady der Nation, Michelle Obama. (...)

Aber über allem werde ich nie vergessen, wem dieser Sieg in Wahrheit gehört. Er gehört euch. (...) Ich war nie der wahrscheinlichste Kandidat für dieses Amt. Wir haben nicht mit viel Geld oder viel Unterstützung angefangen. Unser Wahlkampf entstand nicht in den Sälen in Washington. Er begann in den Hinterhöfen von Des Moines und in den Wohnzimmern in Concord und den Vorgärten von Charleston. Er wurde gestaltet von arbeitenden Männern und Frauen, die in ihre kleinen Ersparnisse gegriffen haben, um 5 oder 10 oder 20 Dollar für die Sache zu geben. (...)

Dies ist euer Sieg. Ich weiß, dass ihr das nicht einfach getan habt, um eine Wahl zu gewinnen. Und ich weiß, dass ihr das nicht für mich getan habt. Ihr habt es getan, weil ihr das gewaltige Ausmaß der vor uns liegenden Aufgabe versteht. Denn selbst wenn wir heute Abend feiern, wissen wir, dass die Herausforderungen von morgen die größten unseres Lebens sind - zwei Kriege, ein Planet in höchster Gefahr, die schwerste Finanzkrise in einem Jahrhundert.

Selbst wenn wir heute Abend hier stehen, wissen wir, dass tapfere Amerikaner in den Wüsten im Irak und in den Bergen Afghanistans aufwachen, um ihr Leben für uns zu riskieren. Da sind Mütter und Väter, die wach liegen, wenn die Kinder schon eingeschlafen sind, und sich fragen, wie sie die Hypothek finanzieren oder ihre Arztrechnung bezahlen oder genug sparen für den Hochschulunterricht ihres Kindes.

Es müssen neue Energien genutzt, neue Arbeitsplätze geschaffen und neue Schulen gebaut werden, auf Bedrohungen muss reagiert werden, und Bündnisse müssen erneuert werden. Die Straße vor uns wird lang sein. Unser Anstieg wird steil sein. Wir werden nicht in einem Jahr oder selbst in einer Amtszeit dort ankommen. Aber, Amerika, ich war nie hoffnungsvoller als heute Abend, dass wir dort hinkommen werden.

Ich verspreche euch, wir als ein Volk werden dort hingelangen. (Rufe: Yes we can! Yes we can! Yes we can!)

Es wird Rückschläge und falsche Ansätze geben. Es gibt viele, die nicht mit jeder Entscheidung oder jeder Politik einverstanden sein werden, die ich als Präsident mache. Und wir wissen, dass die Regierung nicht jedes Problem lösen kann. Aber ich werde immer ehrlich mit euch umgehen, wenn es um die Herausforderungen geht, die vor uns liegen.

Ich werde euch zuhören, vor allem, wenn wir verschiedener Meinung sind. Und vor allem werde ich euch bitten, euch der Arbeit anzuschließen, um diese Nation zu erneuern, auf die einzige Art, wie dies in Amerika seit 221 Jahren getan worden ist - Block um Block, Stein um Stein, schwielige Hand um schwielige Hand.

Was vor 21 Monaten in den Tiefen des Winters begann, kann nicht in dieser Herbstnacht enden. Dieser Sieg allein ist noch nicht der Wandel, den wir anstreben. Er ist nur die Chance für uns, diesen Wandel herbeizuführen. Und das kann nicht geschehen, wenn wir zurückkehren zu der Art, wie die Dinge waren. Es kann nicht ohne euch geschehen, ohne einen neuen Geist des Dienstes, einen neuen Opfergeist. Daher lasst uns einen neuen Geist des Patriotismus entwickeln, der Verantwortung, bei der jeder von uns beschließt, einzuspringen und härter zu arbeiten und nicht nur nach uns selbst, sondern auch nach den anderen zu schauen.

Lasst uns daran denken, dass uns diese Finanzkrise - wenn überhaupt - gelehrt hat, dass wir keine blühende Wall Street haben können, während die Main Street (die einfachen Leute) leidet. In diesem Land sind wir eine Nation, ein Volk, wenn wir uns erheben oder fallen. (...)

Und an diejenigen Amerikaner, deren Unterstützung ich erst noch erlangen muss: Ich mag heute nicht eure Stimme bekommen haben, aber ich höre eure Stimmen. Ich brauche eure Hilfe. Und ich werde auch euer Präsident sein.

Und an alle, die heute Abend jenseits unserer Küsten zuschauen, von Parlamenten und Palästen, an die, die in den vergessenen Ecken der Welt vor dem Radio zusammensitzen - unsere Geschichten sind verschieden, aber wir teilen ein Schicksal, und eine neue Morgendämmerung der amerikanischen Führungskraft ist da.

An diejenigen, die diese Welt niederreißen wollen: Wir werden euch besiegen. An diejenigen, die Frieden und Sicherheit wollen: Wir unterstützen euch. Und an diejenigen, die sich gefragt haben, ob das Leuchtfeuer Amerikas noch so hell brennt: Heute Abend haben wir einmal mehr bewiesen, dass die wahre Stärke unserer Nation nicht von der Macht unserer Waffen oder dem Ausmaß unseres Wohlstands kommt, sondern von der andauernden Kraft unserer Ideale: Demokratie, Freiheit, Chancen(gleichheit) und unablässige Hoffnung.

Das ist der wahre Geist Amerikas: Dass Amerika sich ändern kann. Unsere Union kann vervollkommnet werden. Was wir schon erreicht haben, gibt uns Hoffnung für das, was wir morgen erreichen können und müssen.

Diese Wahl hatte viele erstmalige Dinge und viele Geschichten, die noch über Generationen hinweg erzählt werden. Aber eine ist heute Abend in meinem Kopf von einer Frau, die ihre Stimme in Atlanta abgegeben hat. Sie ist wie die Millionen anderen, die in der Schlange gewartet haben, damit bei dieser Wahl ihre Stimme gehört wird - mit einer Ausnahme: Ann Nixon Cooper ist 106 Jahre alt.

Sie wurde gerade eine Generation nach der Sklaverei geboren, in einer Zeit, als es keine Autos auf der Straße und keine Flugzeuge am Himmel gab, als jemand wie sie aus zwei Gründen nicht wählen konnte: Weil sie eine Frau ist und wegen ihrer Hautfarbe.

Und heute Abend denke ich an alles, was sie das ganze Jahrhundert hinweg in Amerika gesehen hat - den Kummer und die Hoffnung, den Kampf und den Fortschritt, die Zeit, in der wir gesagt bekamen, dass wir nicht können, und die Leute, die am amerikanischen Glauben festhielten: Ja, wir können.

Wenn da Verzweiflung im Staub und Depression im Land war, erlebte sie eine Nation, die ihre Angst mit einem New Deal bezwang, mit neuen Arbeitsplätzen, einem neuen Sinn für gemeinsame Ziele. Ja, wir können. (Rufe: Yes we can)

Als die Bomben auf unseren Hafen fielen und Tyrannei die Welt bedrohte, erlebte sie, wie eine Generation sich zur Größe erhob und eine Demokratie gerettet wurde. Ja, wir können. (Rufe: Yes we can)

Sie war da für die Busse in Montgomery, die Wasserschläuche in Birmingham, eine Brücke in Selma, und da gab es einen Prediger aus Atlanta, der einem Volk gesagt hat: We Shall Overcome. Ja, wir können. (Rufe: Yes we can)

Ein Mann ist auf dem Mond gelandet, eine Mauer wurde in Berlin niedergerissen, eine Welt wurde verbunden durch unsere eigene Wissenschaft und Vorstellungskraft. Und in diesem Jahr, bei dieser Wahl, berührte sie mit ihrem Finger einen Bildschirm und gab ihre Stimme ab, weil sie nach 106 Jahren in Amerika, durch die besten Zeiten und dunkelsten Stunden hinweg, wusste, wie Amerika sich wandeln kann. Ja, wir können. (Rufe: Yes we can)

Amerika, wir sind so weit gekommen. Wir haben so viel gesehen. Aber es ist noch so viel mehr zu tun. So lasst uns heute Abend fragen, ob unsere Kinder leben sollen, um das nächste Jahrhundert zu sehen, ob meine Töchter so glücklich sein werden, so lange zu leben wie Ann Nixon Cooper, welchen Wandel werden sie dann erleben? Welchen Fortschritt werden wir dann gemacht haben?

Dies ist unsere Chance, auf diesen Ruf zu antworten. Das ist unser Augenblick. Das ist unsere Zeit, unser Volk zurück zur Arbeit zu bringen und Chancen für unsere Kinder zu eröffnen, Wohlstand wiederherzustellen und die Sache des Friedens voranzubringen, den amerikanischen Traum zurückzugewinnen und diese fundamentale Wahrheit zu bekräftigen, dass wir aus vielen heraus eins sind, dass wir hoffen, während wir atmen. Und wenn wir auf Zynismus und Zweifel stoßen und auf diejenigen, die sagen, wir können das nicht, dass wir dann mit jenem zeitlosen Glauben antworten, der den Geist eines Volkes zusammenfasst: Ja, wir können.

Danke. Gott segne euch. Und möge Gott die Vereinigten Staaten von Amerika segnen."

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