Libyen

Todesurteil für Krankenschwestern und Arzt

19.12.2006

Die Verurteilten sollen über 400 Kinder mit dem HI-Virus infiziert haben. Plassnik will "alle Möglichkeiten ausschöpfen" um das Urteil aufzuheben

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Ungeachtet internationalen Drucks hat ein libysches Gericht die Todesstrafe für fünf bulgarische Krankenschwestern und einen palästinensischen Arzt bestätigt. Das Gericht bekräftigte am Dienstag den Vorwurf, die Angeklagten hätten hunderte von libyschen Kindern gezielt mit dem HI-Virus infiziert. Der Verteidigung steht noch die Berufung vor dem Obersten Gerichtshof offen.

Menschenrechtsgruppen und die Europäische Union hatten sich dafür eingesetzt, mehr entlastendes Material in dem Prozess zuzulassen. Die Krankenschwestern und der Arzt sitzen seit Februar 1999 in Libyen in Haft.

Plassnik bestürzt über Todesurteile
"Bestürzt über die heute gefällten neuerlichen Todesurteile in Libyen" erklärte sich Außenministerin Plassnik in Reaktion auf die Entscheidung eines libyschen Gerichts gegen fünf bulgarische Krankenschwestern und einen palästinensischen Arzt. "Die EU tritt unbeirrbar und konsequent für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe ein. Diese unmenschliche Strafe widerspricht diametral unseren Grundwerten und der Menschenwürde. Wir werden daher alle Möglichkeiten ausschöpfen, um eine Aufhebung der Urteile zu erreichen", betonte die Außenministerin in einer Aussendung. "Wir wollen eine rasche, gerechte und menschliche Lösung", erklärte Plassnik.

Angehörige der Kinder jubeln
Die Angeklagten sollen Ende der neunziger Jahre 426 libysche Kinder in einem Krankenhaus in Benghazi mit dem HI-Virus angesteckt haben, der die Immunschwächekrankheit Aids auslösen kann. "Sie haben die Ausbreitung der Krankheit verursacht, die zum Tod von mehr als einer Person geführt hat", urteilte Richter Mahmoud Hawissa. Angehörige der Kinder brachen in Tränen der Freude aus und riefen "Gott ist groß".

Justizirrtum in unfairem Verfahren
Das medizinische Personal hat die Vorwürfe zurückgewiesen. Menschenrechtsorganisationen haben auf die mangelnden hygienischen Zustände in der Klinik hingewiesen und darauf, dass die Zahl der HIV-Infektionen bereits vor dem Eintreffen der ausländischen Mitarbeiter gestiegen sei. Sie halten das Urteil für einen Justizirrtum. Das Verfahren sei weder fair noch unparteilich geführt worden.

"Sehr scharfe Reaktion" aus Bulgarien
Bulgarien hatte im Vorfeld eine "sehr scharfe Reaktion" angekündigt, sollte die Todesstrafe für die fünf bulgarischen Krankenschwestern bestätigt werden. Vizeaußenminister Feim Tschauschew sagte dies laut bulgarischer Nachrichtenagentur BTA bei einer Pressekonferenz in Tripolis am Montagabend. "Die gesamte bulgarische Öffentlichkeit erwartet, dass diese unschuldigen Menschen in ihr Heimatland zurückkehren", sagte er.

Vor der Urteilsverkündung gab es in ganz Bulgarien Solidaritätsveranstaltungen für die seit rund acht Jahren inhaftierten Frauen. Demonstranten forderten bei Kundgebungen und Unterstützungskonzerten einen Freispruch. In mehreren Städten wie in Weliko Tarnowo und Warna am Schwarzen Meer gab es auch Bittgebete für die Bulgarinnen und den mitangeklagten palästinensischen Arzt, wie die amtliche Nachrichtenagentur BTA berichtete.

Bereits 2004 verurteilt
Die sechs Angeklagten waren 2004 zum Tode durch Erschießen verurteilt worden. Ein bulgarischer Arzt wurde damals freigesprochen. Das Oberste Gericht Libyens hob das Urteil im vergangenen Jahr auf internationalen Druck auf und ordnete an, den Fall neu aufzurollen. Der Abschluss dieses Verfahrens war wiederholt aufgeschoben worden.

Gerüchte um "Tauschhandel"
In den vergangenen Monaten hatte es Gerüchte gegeben, Libyen wolle die Krankenschwestern gegen den libyschen Offizier Abdel Basset Ali al-Megrahi austauschen, der wegen des Lockerbie-Attentats in Großbritannien eine lebenslange Haftstrafe verbüßt. Das hatte der bulgarische Ex-Außenminister Solomon Passi in einem Fernsehinterview erklärt.

Das libysche Regime hatte die Verantwortung für den Terroranschlag auf ein PanAm-Flugzeug im Dezember 1988 über der schottischen Ortschaft Lockerbie übernommen, bei dem 259 Flugzeuginsassen und elf Menschen am Boden ums Leben gekommen waren. Im August 2003 unterzeichneten Libyen und Vertreter der Hinterbliebenen ein Abkommen über 2,3 Milliarden Euro Entschädigung. Im Gegenzug hoben die Vereinten Nationen die Sanktionen gegen das nordafrikanische Land auf.


Im Folgenden eine Chronik der bisherigen Entwicklung:

Februar 1999: 19 in Libyen beschäftigte Krankenhausmitarbeiter aus Bulgarien werden nach Ermittlungen zu HIV-Infektionen festgenommen. Später werden 13 von ihnen wieder freigelassen.

Februar 2000: Der Prozess gegen die sechs bulgarischen Krankenhausmitarbeiter sowie einen palästinensischen Arzt und neun Libyer beginnt. Ihnen wird vorgeworfen, die Kinder wissentlich mit HIV-verseuchten Blutkonserven infiziert zu haben. Die Libyer werden wegen Fahrlässigkeit angeklagt.

3. September 2003: Der französische Arzt Luc Montagnier sagt aus, die Aids-Epidemie sei bereits ein Jahr vor Ankunft der Bulgaren ausgebrochen.

8. September 2003: Die libysche Staatsanwaltschaft fordert Todesurteile für die sechs Bulgaren sowie den Palästinenser. Gleichzeitig werden neun libysche Polizisten beschuldigt, die Angeklagten gefoltert zu haben. Ihnen soll getrennt der Prozess gemacht werden.

6. Mai 2004: Ein libysches Gericht verurteilt fünf bulgarische Krankenschwestern und den palästinensischen Arzt zum Tode. Ein bulgarischer Arzt wird freigesprochen.

7. Juni 2005: In dem Folterprozess spricht ein Gericht in der Hauptstadt Tripolis die neun libyschen Polizisten frei.

25. Dezember 2005: Das Oberste Gericht hebt das Todesurteil gegen die Ausländer auf und verweist den Fall zurück an ein untergeordnetes Gericht.

21. Jänner 2006: Familien der infizierten Kinder verlangen Entschädigungszahlungen von insgesamt 4,4 Milliarden Euro, um das ins Stocken geratene Verfahren zu beenden.

4. Juli 2006: In dem neu aufgerollten Verfahren weisen die Angeklagten die Anschuldigungen erneut zurück.

6. Dezember 2006: Internationale Wissenschaftler verfolgen den Ursprung des HI-Virus, mit dem die Kinder infiziert sind. Sie weisen nach, dass der spezielle Virusstrang bereits vor der Ankunft der ausländischen Mediziner verbreitet war.

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