Fast 42 Jahre an der Macht

Karl Wendl: Gaddafis bizarres Leben

20.10.2011

ÖSTERREICH-Reporter Wendl analysiert den Tod des Diktators.

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Weder Mao noch Stalin waren länger im Amt als er. Nur Fidel Castro kann auf eine ähnlich um zwei Jahre längere Amtszeit zurückblicken, wobei der Begriff Amtszeit eigentlich falsch ist –

hatte gar keine offizielle Position. Er war weder gewählter Präsident, noch Parteichef, noch Staatschef. Er war bloß Oberst, Revolutionsführer. Mächtigster Mann im Staat. Der Einzige, der entscheidet. Das reichte. Bis zum 20. Oktober.

Putsch
Am 1. September 1969 putschte er in Tripolis als blutjunger Hauptmann gegen den ungeliebten und unfähigen König Idriss. Machte kurzen Prozess mit dessen „Weißer Garde“, eine Machtergreifung, die leicht fiel. Gaddafi verkörperte damals jenen Geist islamischen Siegesbewußtseins, jenen revolutionär-religiösen Taumel, der Moslems mitreißt. Sein Habitus strahlte Geheimnisvolles aus, Verwirrendes. Er war ein schöner Mann. Groß, kräftig, ausdrucksvoller Beduinenkopf, sympathische Jugendhaftigkeit, katzenhafter Gang. Sein brennend starrer Blick hatte ständig etwas Gehetztes.

Zuletzt war Gaddafi nur noch ein alternder Exzentriker, ein Politik-Komödiant in schrillen Phantasieuniformen. Die Gesichtshaut lasch, die Lippen hängend, die Augen verquollen, ein Schatten seiner selbst.

Bloß sein schrilles Erscheinungsbild während seiner kreischenden Ansprachen aus seinem Bunker Bab al Asisija während der NATO-Luftangriffe auf seine Festung in Tripolis erinnerte noch an den Revolutionär von damals, als er versuchte, seine eigene Nation in eine egalitäre, islamische Gesellschaftsform einzuschmelzen. Bei seinen Auslandsreisen wohnte er im Beduinen-Zelt. Bis zuletzt  musste  ihm seine ausschließlich weibliche Leibgarde Kamelmilch servieren. Jetzt starb er vor einer Betonröhre im Wüstensand.

Öl und Gas und dennoch kein reiches Land!
Gaddafi brachte seinem Volk keinen Reichtum. Er stattete sein Land lediglich mit nationaler Arroganz aus, doch das reichte nicht zur Führerschaft in der arabischen Welt und in Afrika. Zwar musste in Libyen niemand Hunger leiden, aber der Lebensstandard war niedrig, Infrastruktur und Löhne waren nicht mit Dubai zu vergleichen. Sein Projekt, aus Libyen (nur sechseinhalb  Millionen Einwohner) eine geschlossene Vorhut der arabischen und islamischen Wiedergeburt zu machen, war gescheitert. Und das, obwohl eine Laune der Geologie im tripolitanischen Boden Gaddafi alle erdenklichen Möglichkeiten gegeben hat – Libyen verfügt über immensen Erdölreichtum, exportierte fast ebenso viel Öl pro Kopf wie Saudi Arabien.

Gaddafi wuchs in der Sahara auf. Als Kind armer Beduinen. Die Wüste war sein Zuchtmeister, sein Zelt sein Schloss. Als Schüler wurde er missachtet, vernachlässigt. Er hatte kaum Chancen gegen die Söhne wohlhabender und arroganter Feudalherren. Daraus wuchs sein brennendes Bedürfnis nach Macht und sozialer Gleichmacherei, eine Beschreibung, die in Biographien vieler Revolutionäre zu finden ist: „In der Einsamkeit zwischen Sand und Firmament entstand sein fanatisches Verlangen nach Abrechnung mit der korrupten und gottlosen Welt“, analysiert Gaddafi-Kenner Peter Scholl-Latour.

Mit Terror zum Weltfeind!
Dieses prophetische Sendungsbewusstsein machte Gaddafi zum Motor jeder Form revolutionären Umsturzes. Jahrzehntelang pumpte der Oberst als Spinne im weltweit verzweigten System des Terrors Geld in Tod und Vernichtung. Er finanzierte die moslemischen Terroristen in Mindanao und palästinensische Bomber. Seine Emissäre unterstützten die Mörder der „Irisch-Republikanischen-Armee“, die Bomber der ETA, die Killer der RAF in Deutschland, die OPEC-Geiselnehmer in Wien.

Wo immer Blutvergießen entstand,
waren Gaddafis Männer nicht weit. So auch am 21. Dezember 1988. Damals schmuggelten libysche Geheimagenten unter Führung von Gaddafi-Agent Abdel Bassit Ali Mohammed al Megrahi eine Höllenmaschine an Bord des PanAm-Jumbos „Maid of the Seas“. 38 Minuten nach dem Start der Maschine mit Ziel New York detonierte die Zeitbombe in 10.000 Meter Höhe über der schottischen Ortschaft Lockerbie. Alle 259 Menschen an Bord sowie elf Bewohner des Marktfleckens kamen bei dem Anschlag ums Leben. Al Megrahi, der Mann, der dieses Inferno ausgelöst hat, wurde erst vor einem Jahr in Tripolis frenetisch gefeiert, nachdem die Schotten ihn freigelassen haben. Gaddafi begrüßte den Massenmörder mit Bruderkuss. Die Schotten haben ihn nach Hause geschickt, weil er an Prostatakrebs leidet. Und das schottische Recht im Falle einer todbringenden Erkrankung die Begnadigung eines Verurteilten zulässt. Heute liegt der Lockerbie-Attentäter vom Krebs gezeichnet in einem Haus am Stadtrand von Tripolis.

Sirte - Heimatstadt Gaddafi´s endgültig befreit

Gaddafi und das Geschäft mit der Geiselnahme!
Gaddafi hat nach den Anschlägen von 9/11 öffentlich dem Terror abgeschworen. Ein Mann wie er kann aber seine Gefühle, seine Vergangenheit, nicht auswechseln. Schließlich versteht das Geschäft der Geiselnahme keiner besser als er. Zuerst hielt er jahrelang bulgarische Krankenschwestern fest, weil diese libyschen Kindern absichtlich aidsverseuchte Blutkonserven verabreicht haben. Die Krankenschwestern wurden zum Tode verurteilt, in Straflager geschickt, Psychoterror pur. Zuletzt begnadigte Gaddafi die bedauerswerten Frauen. Er brauchte Handlungsspielraum bei Gesprächen mit der EU und Brüssel ging in die Knie. Dann führte Gaddafi die Schweiz vor, weil die  Genfer Polizei im Juli 2008 seinen Sohn Hannibal (das fünfte von acht Kindern) festgenommen hatte. Hannibal Gaddafi flüchtete nach Algerien. In seinem Konvoi saßen sein bruder Mohammed, seine Mutter und seine Schwester Aisha. Aisha brachte noch am Grenzübergang zwischen Libyen und Algerien ein Kind zur Welt.

Bis zuletzt wollte Gaddafi nicht wahrhaben, dass er sein Land, sein Volk verloren hat. Nach dem Fall von Tripolis setzte er sich völlig überstürzt in die Wüstenfestung Bani Walid ab. Von dort ging es weiter in seinen Geburtsort Sirte an der Mittelmeerküste. In seiner Residenz in Tripolis ließ er alles zurück: Briefe, Tausende Fotos, alle persönlichen Gegenstände, sogar die meisten seiner Uniformen. Gaddafi hätte auch ins Ausland flüchten können. Er tat es nicht: „Allah ist mit den Standhaften“, hatte er noch vor wenigen Tagen aus seinem Versteck in Sirte verkünden lassen. Es war seine letzte Botschaft.

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