Der neue Brunetti

Donna Leon: "Ich mag Bücher, die keine Antwort geben"

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In ihrem 26. Brunetti schildert Donna Leon Umweltverbrechen in der Lagune von Venedig.

Davide Casati, ein begnadeter Ruderer, ertrinkt in der Lagune von ­Venedig. War es ein Unfall oder Mord? Donna Leon, die seit 36 Jahren in Venedig lebende amerikanische Bestsellerautorin, Liebhaberin der Barockoper, besonders des Caro Sassone Georg Friedrich Händel, und Professorin für englische Literatur, hat ihren 26. Kriminalroman um den melancholischen ­venezianischen Commissario Guido Brunetti herausgebracht: Stille Wasser (Earthly Remains) erzählt von Umweltverbrechen in der venezianischen Lagune.

ÖSTERREICH: Ihr 26. Brunetti-Krimi „Stille Wasser“ spielt auf Sant’Erasmo in der Lagune von Venedig. Warum dieser Schauplatz?

DONNA LEON: Sant’Erasmo war früher der Haupt-Versorger der Stadt Venedig für Obst und Gemüse. Jetzt kommen die meisten Lieferungen vom Festland, obwohl Sant’Erasmo noch immer einiges zur Verfügung stellt. Irgendwie ist das auch nur ein weiterer Aspekt des Niedergangs der Stadt. Sant’Erasmo ist nur eine kurze Bootsfahrt von den Fondamente Nuove entfernt, trotzdem fühlt man sich auf dieser Insel wie auf dem Land. Es gibt viele Bauernhöfe, Bäume, Landstraßen und Autos, es ist auch ein guter Ort, um im Frühling und im Herbst Ausflüge mit dem Fahrrad zu machen. Aber es ist gleichzeitig auch Venedig. Ich wollte schon seit Jahren über die Lagune schreiben und habe wunderbare Sommer dort verbracht mit Rudern und Schwimmen, mit dem Beobachten der Vögel und der Bienen.

ÖSTERREICH: In der ersten Hälfte des Buches schildert Brunetti vor allem die schöne Landschaft. Sind Ihnen die Beschreibungen der Natur wichtiger als die Krimihandlung?

LEON: Nun, da das Buch ein Verbrechen schildert, ist es kein Zufall, dass die Natur am Beginn eine wichtige Rolle spielt. Die Natur ist reich, schön, normalerweise friedlich und fruchtbar. Ich glaube nicht, dass die Naturbeschreibungen wichtiger sind als die Krimihandlung, aber sie sind bestimmt wichtig für die Geschichte. Die Stadt Venedig ist immer von den Menschen beschädigt worden. Das Buch legt nahe, dass nicht nur die Hauptinseln der Stadt Opfer der Zerstörungen sind.

ÖSTERREICH: Commissario Brunetti ist ein kluger, sympathischer Mann, der Plinius und Euripides liest, aber Süditaliener verachtet. Warum diese rassistische Attitüde?

LEON: Sie passt zu ihm. Norditaliener, wie ich sie seit fast einem halben Jahrhundert kenne, sind sehr argwöhnisch Südländern gegenüber. Ich habe Freunde aus Puglia, die seit 40 Jahren in Venedig leben, und viele von ihnen fühlen sich noch immer nicht wohl wegen der Haltung, die ihnen hier entgegengebracht wird. Niemand ist offen unfreundlich, aber es gibt im Hintergrund Misstrauen und Verdacht in der Art und Weise, wie die Venezianer Personen aus dem Süden behandeln. Für mich macht das natürlich keinen Sinn, weil ich amerikanische und keine italienischen Vorurteile habe (ich denke, wir lernen die als Kinder). Meine Erfahrungen mit Süditalienern und im Süden waren immer freundlich und positiv.

ÖSTERREICH: Das Motto stammt wieder aus einer Händel-Oper, diesmal „Ottone“: „Der Fluss wird uns mit sich tragen / und ins Meer befördern, / noch ehe der Tag beginnt.“ Warum haben Sie Emirenos Arie gewählt?

LEON: Die Arie erzählt vom Verlorensein im Wasser: Wir werden vom Fluss ins Meer getragen. Die Lagune ist – die meiste Zeit im Buch – friedlich und angenehm, aber offene Gewässer können auch gefährlich sein.

ÖSTERREICH: Wie geht Ihre Händel-Arbeit mit Pomo d’Oro weiter? Und wann wird „Ottone“ herauskommen?

LEON: Der Ottone ist fast fertig und kommt im Sommer heraus. Wir haben den griechischen Dirigenten George Petrou für den Ottone engagiert – eine herrliche Oper und in unserer Aufnahme großartig gesungen und gespielt. Wir haben Petrou ausgesucht, weil wir alle seine tolle Händel-Arbeit mit seinem eigenen Orchester kennen und dachten, er würde gut mit Pomo d’Oro zusammenarbeiten. Wir hatten recht.

ÖSTERREICH: Werden Sie nächstes Wochenende bei den Salzburger Pfingstfestspielen Händels „Ariodante“ mit ­Cecilia Bartoli hören?

LEON: Leider kann ich zu Pfingsten nicht nach Salzburg kommen, aber ich werde den Ariodante im August nachholen. Ich hoffe, dass er wunderbar wird; mit Cecilia im Smoking – was kann da schon schiefgehen? Ich werde mir im Sommer in Salzburg auch die Aida and die Clemenza anschauen.

ÖSTERREICH: Am 25. Oktober werden Sie mit Pomo d’Oro im Wiener Konzerthaus „Carnevale 1729“ präsentieren ...

LEON: Die schwedische Mezzosopranistin Ann Hallenberg, eine der besten SängerInnen, mit denen ich gearbeitet habe, wird mit Pomo d’Oro virtuose barocke Arien von Porpora, Orlan-dini, Giacomelli und Leo singen, die im Februar 1729 beim Karneval in Venedig aufgeführt wurden. Es ist ein musikalischer Goldregen, ein wildes Spektakel genialer Musik, und Ann ist die richtige Sängerin dafür.

ÖSTERREICH: Neuerdings verbringen Sie fast mehr Zeit in der Schweiz als in Venedig. Ist La Serenissima nicht mehr, wie Sie immer sagen, „die schönste Stadt der Welt“?

LEON: Venedig ist noch immer die schönste Stadt der Welt, aber jetzt gibt es nur mehr 54.000 Einwohner (ich habe diese Zahl letzte Woche im Fenster der Farmacia Morelli am Campo San Bórtolo ausgehängt gesehen) und, wie ich höre, 33 Millionen Touristen. Diese Zahlen machen die Stadt während des Großteils des Jahres zu einem überfüllten Ort, also ziehe ich es vor, in anderen Gegenden zu verweilen und dann im Spätherbst nach Venedig zurückzukommen.

ÖSTERREICH: Haben Sie den 27. Brunetti-Band schon geschrieben?

LEON: Der 27. Brunetti ist fast fertig und handelt von der Ärzteschaft, aber ich glaube, ich benütze das Buch, um über Gerechtigkeit nachzudenken und worin sie besteht. Wie immer habe ich das gelesen, was Brunetti gerade liest. Hier ist es die Antigone des Sophokles, die ich ungefähr zum 15. Mal gelesen habe, auf die sich alles in diesem Buch bezieht. Diese Tragödie ist eine verwickelte, verblüffende, widersprüchliche, glorreiche Auseinandersetzung mit dem Gesetz und mit der Gerechtigkeit und darüber, was richtig oder falsch ist. Je älter ich werde, desto schwieriger wird es, über irgendetwas ein Urteil zu fällen – eine Tatsache, die es noch interessanter macht, die Antigone zu lesen. Ich mag Bücher, die keine Antworten geben, obwohl ich noch immer hoffe, dass das Leben sie geben wird.

E. Hirschmann-Altzinger

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