Ehemaliger FSA-Kämpfer: ''Habe sehr viele ermordete Menschen gesehen.''
Wien. Am Montagnachmittag ist im Prozess gegen zwei mutmaßliche Foreign Fighter der radikalislamistischen Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS), ihre beiden Ehefrauen und den in einem vorangegangenen Verfahren bereits zu 20 Jahren verurteilten früheren "Hassprediger" Mirsad O. der "Kronzeuge" der Anklage vernommen worden. "Ich habe sehr viele ermordete Menschen gesehen", gab der Mann, der mit einer schwarzen Sturmhaube maskiert am Zeugenstuhl Platz nahm, am Wiener Landesgericht an.
2013 nach Syrien begeben
Der Zeuge - ein gebürtiger Tschetschene - befindet sich im Zeugenschutzprogramm, seinen Angaben zufolge ist auf ihn ein Kopfgeld ausgesetzt. Er hatte sich 2013 nach Syrien begeben, vorgeblich um dort ein Auto zu verkaufen. Er schloss sich der Freien Syrischen Armee (FSA) an und hörte als Übersetzer den Funk der gegnerischen, aus Tschetschenien stammenden ISIS-Kämpfer (Islamischer Staat im Irak und in Syrien) ab, wie der IS bis Juni 2014 hieß. Nach kurzer Zeit wandte sich der Mann von der FSA ab, kehrte nach Österreich zurück und stellte sich den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung, um gegen tschetschenischstämmige Foreign Terrorist Fighter auszusagen.
Der Zeuge trug dazu bei, dass Mucharbek T. - ein 33-jähriger Tschetschene, der 2002 als Jugendlicher nach Österreich gekommen war - in Graz zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt wurde, weil er als IS-Kämpfer in Syrien in Gräueltaten verwickelt war. Bei einer davon - der Erschießung von Bewohnern eines Hochhauses in der nordsyrischen Stadt Hraytan - soll Turpal I., der Hauptangeklagte im gegenständlichen Wiener Verfahren, beteiligt gewesen sein. Laut Anklage soll Turpal I. unter dem Kampfnamen Abu Aische sogar die verantwortliche IS-Kampftruppe angeführt und das Massaker angeordnet haben.
"Kronzeuge" kämpfte mit Erinnerungslücken
Der "Kronzeuge" kämpfte in seiner Einvernahme mit Erinnerungslücken: "Ich habe sehr viel vergessen, es ist viele Jahre her." Außerdem habe man "lange genug mit mir gearbeitet, damit ich diese Ereignisse vergesse", meinte der Mann offenbar unter Verweis auf eine psychotherapeutische Behandlung. Er berichtete von Gräueltaten des gegnerischen IS, die er über Funk bzw. ein Fernglas mit Nachsichtgerät aus einer gewissen Entfernung mitbekommen habe: "Es gab auch schwangere Frauen, die getötet wurden. Ich war schockiert. Ich kann mich an die Einzelheiten jetzt nicht erinnern. Das ist schon sehr lange her, und ich werde auch immer älter."
Zur Frage, ob Abu Aische mit dem Hauptangeklagten Turpal I. ident ist, hatte der "Kronzeuge" im Ermittlungsverfahren zunächst erklärt, I. sei "bei Abu Aische" gewesen. Zehn Tage später identifizierte er dann I. anhand eines Fotos als Abu Aische. Diesen Widerspruch erklärte der Zeuge vor Gericht mit einem Protokollierungsfehler. Von den Geschworenen explizit gefragt, ob er in dem Hauptangeklagten Abi Aische wieder erkenne, wurde der Zeuge in der Verhandlung nicht.
Vor dem "Kronzeugen" war Mucharbek T. als Zeuge befragt worden. Er erklärte in seiner Einvernahme, die ihm angelasteten strafbaren Handlungen hätten gar nicht stattgefunden: "Das sind alles erfundene Sachen." Er bestritt außerdem, dass Turpal I. den Kampfnamen Abu Aische getragen und sich als Anführer einer mörderischen Truppe hervor getan habe: "Nie im Leben hat er so geheißen."
Turpal I. sieht sich bekanntlich als Opfer einer Verwechslung und will in Syrien lediglich das Grab seines im Syrien-Konflikt gefallenen Schwagers besucht haben.
In Weißrussland verhaftet
Für den mehrfachen österreichischen Meister im Taekwondo hatten im November 2018 in Belarus (Weißrussland) die Handschellen geklickt. Er kam in Auslieferungshaft, im darauf folgenden Frühjahr wurde Turpal I. der österreichischen Justiz übergeben. Am 24. April 2019 verhängte das Landesgericht Graz über den Terror-Verdächtigen die U-Haft.
Am 5. Mai 2021 musste er enthaftet werden, weil die U-Haft laut Strafprozessordnung (StPO) zwei Jahre nicht übersteigen darf, falls bis dahin keine Anklageschrift eingebracht wurde und keine Hauptverhandlung begonnen hat. Das gilt selbst dann, wenn der Betroffene - wie im vorliegenden Fall - eines Kapitalverbrechens verdächtigt wird, das mit einer mehr als fünfjährigen Freiheitsstrafe bedroht ist (§178 Abs 1 2. Fall StPO).
Turpal I. erschien daher zu seinem Prozess stets auf freiem Fuß - auch am heutigen Montag. Dabei hatte Staatsanwalt Johannes Winklhofer am vergangenen Donnerstag seine Festnahme erwirkt, doch das Landesgericht Graz wies am Samstag den Antrag auf Verhängung der U-Haft aus rechtlichen Gründen ab. Die Verhandlung wird am Dienstag fortgesetzt.