125.000 Menschen wurden vom "Militär als Geiseln genommen".
Seit Monaten geht die türkische Armee in den Kurdengebieten der Südosttürkei gegen mutmaßliche PKK-Kämpfer vor, zwei europäische Anwaltsvereinigungen erheben nach einem Besuch in der Region nun schwere Vorwürfe. 125.000 Menschen dürften seit Wochen ihre Häuser nicht verlassen und seien von medizinischer Versorgung abgeschnitten. Hunderte Zivilisten, darunter viele Kinder, seien getötet worden.
"Misshandlungen und extreme Gewalt"
Auch der Zugang zu Trinkwasser, Nahrungsmitteln und Elektrizität sei im Zentrum der betroffenen Stadt Diyarbakir limitiert. "Die Bewohner wurden vom Militär als Geiseln genommen und sind Misshandlungen und extremer Gewalt ausgesetzt", schreiben die Menschenrechtsanwälte der Vereinigungen ELDH und EDL in einer Aussendung. Jeden Tag würden Mediziner um Zutritt bitten, aber von der Polizei zurückgewiesen werden.
Informationen von Vereinigungen
Da allen unabhängigen Beobachtern oder Journalisten der Zugang zum Zentrum Diyarbakirs untersagt ist, beziehen auch die Anwälte ihre Informationen von (kurdischen) Vereinigungen vor Ort, etwa der Rechtsanwalts- und der Ärztekammer bzw. von Angehörigen der Getöteten.
Spärliche Informationen
Die Ausgangssperre würde zwar gelegentlich für einige Stunden aufgehoben, darüber würden die Bewohner aber nur unzulänglich informiert, monieren die Anwälte. Deshalb seien schon mehrere Menschen - "darunter einige Schulkinder" - von militärischen Scharfschützen erschossen worden, weil ihnen nicht bewusst gewesen sei, dass die Ausgangssperre bereits wieder in Kraft sei, heißt es.
In Sperrzone erschossen
"Wir haben die Angehörigen einer 17-Jährigen getroffen, die kurz in die Sperrzone hinein ist, um eine Schulfreundin zu treffen und sich auf die Uni-Zulassungsprüfung vorzubereiten. Sie hat es nicht rechtzeitig raus geschafft. Später hat ihre Familie erfahren, dass sie erschossen wurde. Aber die Leiche wurde bis heute nicht freigegeben, ihre Angehörigen konnten sie nicht einmal begraben", schildert der Wiener Asyl- und Menschenrechtsanwalt Clemens Lahner, der Teil der Delegation war, im Gespräch mit der APA.
"Man sieht den Krieg nicht, aber man hört ihn."
Auch am Rande der Sperrzone, wo sich das Hotel der Juristen befunden habe, seien die Kämpfe ständig präsent gewesen, so Lahner. "Es waren Maschinengewehrfeuer zu hören und der Lärm von in der Luft kreisenden Jets und Helikoptern - man sieht den Krieg nicht, aber man hört ihn." Die verhängte Ausgangs- und Informationssperre "macht es einfach für den (türkischen, Anm.) Staat zu behaupten, dass 'jeder der getötet wurde, ein Terrorist war' oder 'von Terroristen getötet wurde'", heißt es dazu in der Aussendung der Anwälte.
198 getötete Zivilisten
Laut offiziellen Angaben der türkischen Regierung wurden seit Beginn der Offensive im August 680 PKK-Kämpfer in der Südosttürkei getötet. Die türkische Menschenrechtsstiftung TIHV gab die Zahl der getöteten Zivilisten zuletzt mit 198, davon 39 Kinder, an.
"Menschliche Tragödie beenden"
Die Menschenrechtsanwälte fordern "eine sofortige Aufhebung der unrechtmäßigen Ausgangssperre" von der türkischen Regierung und appellieren an internationale Politiker: Die EU müsse "alles in ihrer Macht stehende tun, um diese menschliche Tragödie zu beenden", der UN-Sicherheitsrat zudem in einer Dringlichkeitssitzung über "die sich verschlechternde Lage der Zivilisten" beraten.