Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo hat das Völkerrecht nicht verletzt. Außenminister Milosevics sieht 'unerwartet schlechte Entscheidung für Serbien.'
Alle Belgrader Printmedien haben am Freitag ausführliche Berichte über das Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes (IGH) zum Kosovo gebracht. "IGH: Internationales Recht durch die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nicht verletzt", titelte die regierungsnahen Tageszeitung "Politika". Gleich darunter der zweite Titel zur Reaktion des serbischen Präsidenten: "Tadic: Schwierige Entscheidung für Serbien, wir setzen den Kampf in den Vereinten Nationen fort".
"Serbien gibt nicht auf
"Der Kampf um den Kosovo geht
weiter" heißt es bei "Press". Unter Berufung auf mehrere Kosovo-Experten,
darunter Vladislav Jovanovic, den Außenminister Jugoslawiens der Ära von
Slobodan Milosevic, stellte die Tageszeitung fest: "Eine unerwartet
schlechte Entscheidung für Serbien". "Serbien gibt nicht auf", schreibt
Boulevardblatt "Vecernje novosti".
"Blic", das eine "Politische Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes" sieht, stellte seine Berichte unter das Motto "Richter haben es abgelehnt, sich mit dem Recht auf Sezession zu befassen". "Danas" setzte den Akzent auf die möglichen unterschiedlichen Deutungen des Gutachtens. "Interpretationskampf begonnen, Entscheidung im Herbst in der UNO".
Großer Jubel in Pristina
Mit seinem überraschend klaren
Spruch zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo hatte der Internationale
Gerichtshof am Donnerstag einen Schlusspunkt unter das jahrelange
völkerrechtliche Tauziehen um die Löslosung Pristinas von Belgrad gesetzt.
Entsprechend groß ist der Jubel in Pristina (albanisch: Prishtina). Doch
selbst die westlichen Unterstützer der kosovarischen Unabhängigkeit dürften
das IGH-Gutachten wegen seiner möglichen Vorbildwirkung für andere ethnische
Konflikte mit gemischten Gefühlen sehen.
Die einseitige Unabhängigkeitserklärung hat nach Ansicht der UNO-Richter "keine anzuwendende Norm des Völkerrechts verletzt", weder das allgemeine Völkerrecht, noch die UNO-Resolution 1244 zum Kosovo und auch nicht den von der UNO-Übergangsverwaltung definierten provisorischen Verfassungsrahmen der früheren südserbischen Provinz. Die Argumente Serbiens gegen die Unabhängigkeitserklärung wurden vom IGH zerpflückt: Weder kenne das Völkerrecht ein prinzipielles Verbot von Unabhängigkeitserklärungen, noch habe der UNO-Sicherheitsrat eine solche Praxis definiert und das Prinzip der territorialen Unversehrtheit finde nur auf die zwischenstaatlichen Beziehungen Anwendung - nicht im Fall der Sezession eines Landesteils.
USA: IGH-Urteil hat keine Präzedenzwirkung
Auf den ersten
Blick ein Sieg auf der ganzen Linie für die Kosovo-Unterstützerstaaten,
darunter Österreich. Das Rechtsgutachten könnte aber noch einiges
Kopfzerbrechen bereiten. Der IGH ist nämlich der politischen Frage
ausgewichen, ob der Kosovo ein "Sonderfall" ohne Präzedenzwirkung für andere
ethnische Konflikte ist. Entsprechend zeigte sich der "Präsident" der
abtrünnigen georgischen Region Abchasien, Sergej Bagapsch, hoch zufrieden
mit dem IGH-Gutachten. In der Balkan-Region selbst deutete der Premier des
serbischen Landesteiles (Republika Srpska), Milorad Dodik, einmal mehr eine
mögliche Abspaltung von Bosnien-Herzegowina an.
Bezeichnend fiel in diesem Zusammenhang auch die Reaktion des US-Außenministeriums aus. Dieses begrüßte den IGH-Spruch zwar, betonte aber zugleich, dass das IGH-Gutachten keine Präzedenzwirkung für ethnische Konflikte wie jene um das Baskenland oder Katalonien in Spanien haben werde. Der Kosovo sei ein "einzigartiger" Fall, sagte Außenamtssprecher P.J.Crowley nach Berichten spanischer Medien.
Kein Blankoscheck
Während der eindeutige IGH-Spruch zahlreiche
bisher abwartende Staaten zu einer Anerkennung der kosovarischen
Unabhängigkeit bewegen dürfte, könnte er die Position der
Unabhängigkeitsgegner einzementieren. Staaten wie Spanien, die Slowakei oder
Zypern müssen befürchten, durch eine Anerkennung im Lichte des
IGH-Gutachtens die zentrifugalen Tendenzen in ihren Ländern weiter zu
stärken. So beeilte sich das Außenministerium in Bratislava, zu betonen,
dass das IGH-Urteil nicht rechtsverbindlich ist. Ein zweideutiger
IGH-Spruch, in dem die kosovarische Unabhängigkeitserklärung als
problematisch in Hinblick auf das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen
eingestuft worden wäre, hätte diesen Staaten einen Schwenk erleichtert.
Ein Blankoscheck für Sezessionisten in aller Welt ist der Richterspruch dennoch nicht. So schweigt der IGH zur Frage, ob die Kosovo-Albaner auf Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker zur Sezession von Serbien berechtigt waren. "Diese Angelegenheit liegt außerhalb des Rahmens der von der Generalversammlung gestellten Frage." Auch sei das Gutachten keineswegs so zu interpretieren, dass "das Völkerrecht Einheiten eines Staates ein allgemeines Recht gibt, sich einseitig von diesem loszusagen", betonen die Richter. Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo habe zwar das Völkerrecht nicht verletzt. Das bedeute aber nicht, dass der Kosovo auch ein "positives Recht" hatte, sich von Serbien loszusagen.