Neuerscheinung

Daniel Kehlmann lässt uns gruseln

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Daniel Kehlmann schrieb nach längerer Pause ein ­neues – kurzes – Buch.

Erzählung

Geh weg – steht plötzlich im Notizbuch, wie von Geisterhand geschrieben. Der Drehbuchautor, der mit seiner Frau und der vierjährigen Tochter auf einer Berghütte Urlaub macht, ahnt es bald: Mit dem Haus, mit dem ganzen Berg, stimmt etwas nicht. Du hättest gehen sollen heißt eine neue, schmale Gruselerzählung von Daniel Kehlmann. Ein nüchternes Kammerstück über das Zerbröseln der Wirklichkeit.

Der Ich-Erzähler schreibt eine seichte Komödie

Der Ich-Erzähler muss ein Drehbuch fertigstellen, eine seichte Komödie. Wir befinden uns in seinem Notizbuch. Er hat es mitgebracht zum Notieren von Ideen, aber er hält bald auch anderes fest: Die gereizte Anspannung in seiner Ehe – „das Geheimnis ist, dass man sich ja doch liebt“ –, das Über-sich-ergehen-lassen der geliebten Tochter und – zunehmend – die seltsamen Dinge, die in diesem modernen Architektenchalet steil über dem Dorf vor sich gehen und langsam, aber sicher, die Konsistenz seiner Wirklichkeit infrage stellen.

Gesichter verfolgen ihn in schlimmen Albträumen

Gesichter verfolgen ihn in schrecklichen Albträumen, Stimmen raunen ihm kaum verständliche Warnungen zu. Gänge verändern ihre Länge, Winkel und Winkelsumme passen nicht zueinander, im Spiegel fehlt er selbst, dafür taucht er am Babymonitor neben dem Bett seiner schlafenden Tochter auf.

Schlecht schläft auch sie und eigentlich kommt die kleine Familie schon bald zu der Einsicht, dass man besser das Weite sucht. Dann bringt ein Beziehungsdrama Verzögerung. „Geh weg, solang“ findet er, als er seine Notizen durchblättert. Doch es ist schon zu spät.

Das Buch ins lauernde Unheimliche

Daniel Kehlmann hat sich nicht zuletzt bei seinen zahlreichen Poetikdozenturen als Stephen-King-Fan deklariert. Mit Du hättest gehen sollen legt er nun selbst Genreprosa in Reinform vor. Dass das Genre dabei sein Schreiben zu beherrschen scheint, und nicht umgekehrt, ist eines Erzählers von seinem Kaliber allerdings unwürdig. Das 90 Seiten lange Buch ist freilich meisterlich konstruiert, führt sachte und straight ins lauernde Unheimliche, würzt es mit feinen Nuancen des Zwischenmenschlichen, doppelt und reflektiert sich als Schreiben selbst, als im Wort manifest gewordene Schaffenskrise, die sofort auch eine Identitätskrise und, gleich im nächsten Atemzug, eine Realitätskrise ist.

Das Buch führt ins 
lauernde Unheimliche

Aber es will nicht richtig Leben hineinkommen in die gut beobachtete Jungfamilie, selbst der Protagonist behält eine nüchterne Statistenrolle, während sein unabwendbares Anheimfallen an dieses vor Schwerkraft strotzende Loch in der Zeit beschworen wird. Oder im Raum, oder doch nur im eigenen inneren Teufelskreis? Wird er am Ende aus einem bösen Traum erwachen oder, schlimmer noch, wacht er freiwillig nicht auf? Aber als Parabel für ein Vatersein und Partnersein, das die Geliebten nur im endgültigen Abschied vor den eigenen Dämonen schützen kann, eignet sich die Erzählung wegen ihrer emotionalen Blutleere ebenso wenig wie als ­packender Thriller. Eine ­kühle Etüde des Grauens. Ein Frösteln in der dunklen Jahreszeit.

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