Roman

Das ist der neue Sommer-Bestseller

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Paula Hawkins’ Psychothriller „Girl on the Train“ führt Charts an.

In den USA nennen Verlagsleute und Buchhändler diesen Roman kurz GOTT: Girl on the Train, der Weltbestseller der in Simbabwe aufgewachsenen, in London lebenden Autorin Paula Hawkins. Auf eine Auflage von drei Millionen im englischsprachigen Raum hat es das Buch innerhalb weniger Monate gebracht. Mittlerweile ist Hawkins’ Psychothriller auch auf dem ersten Platz der ÖSTERREICH-Charts gelandet: der größte Erfolg auf dem Krimimarkt seit Gillian Flynns New York Times-Charts-Hit Gone Girl.

Hitchcock. Hawkins’ Roman, eine neue Version von Hitchcocks Suspense-Klassiker Das Fenster zum Hof, spielt mit einem Gefühl, das jeder in Zeiten multimedialer Überwachung kennt: der unangenehmen Ahnung, beobachtet zu werden.

Allerdings ist bei ihr die obsessive Be­obachterin eine junge Frau, die statt durch ein Gipsbein durch ein Alkoholproblem gehandicapt ist, das an der Klarheit ihres Blicks Zweifel aufkommen lässt, nicht zuletzt bei ihr selbst.

Jeden Morgen sitzt die 30-jährige Rachel, die ihren Job verloren hat und bei einer Freundin als Untermieterin wohnt, im Vorortzug von Ashbury nach London; abends fährt sie wieder zurück, eine von Millionen Pendlern. Die ramponierte Heldin will die Fassade eines geregelten Lebens aufrechterhalten. Niemand achtet auf die Frau mit dem aufgedunsenen Gesicht in zu eng gewordener Kleidung, die beim verschämten Leeren ihrer kleinen Weißweinflaschen und Gin-Tonic-Dosen eine Aura der Verzweiflung umgibt: „Ich bin nicht mehr das Mädchen, das ich früher war. Ich bin irgendwie abstoßend.“ Früher war sie hübsch und schlank, verliebt in Tom, mit dem sie in einer der viktorianischen Doppelhaushälften mit Blick auf die Bahngleise lebte. Jetzt fährt sie täglich an ihrem alten Zuhause vorbei, und wenn das Signal den Zug auf diesem Streckenabschnitt zum Warten zwingt, starrt Rachel hinüber auf ihr früheres Heim.

Projektion. Wie ein Kind sein Puppenheim hat sie in ihrer Fantasie eines der Reihenhäuser – Nummer 15, sie selbst wohnte auf 23 – mit einem perfekten Paar besetzt, das sie Jason und Jess getauft hat: „Sie sind das, was ich früher war. Sie sind Tom und ich vor fünf Jahren. Sie sind, was ich verloren habe.“ Dieser Projektion gibt sie sich hin, bis sie eines Tages aus dem Zugfenster sieht, dass die Frau, die sie Jess nennt, im Garten einen Mann küsst, der definitiv nicht Jason ist. Einige Tage später ist die Frau, die der Leser bereits als Megan und Ko-Erzählerin kennengelernt hat, verschwunden, und Rachel ahnt, dass sie dazu etwas zu sagen haben könnte, gäbe es da nicht diese Erinnerungslücken an ein weiteres Ereignis, die sie nicht schließen kann.

»Hinter der Fassade tobt die Eifersucht«

Die dritte Perspektive ist die von Anna, jener Frau, mit der Tom Rachel einst betrogen hat und die inzwischen mit ihm im Haus an den Gleisen lebt; das Paar hat eine kleine Tochter. Natürlich kennt man einander. Megan war Babysitterin bei Tom und Anna, und Rachel geht mit ­ihren betrunkenen Anrufen und SMS nicht nur ihrem Ex, sondern erst recht dessen neuer Frau auf die Nerven.

Die Handlung erstreckt sich von Anfang Juli bis Mitte September 2013, und Hawkins verzahnt in Tagebuchmanier die drei unterschiedlichen Perspektiven, sodass sie sich ergänzen, überlappen und Sehen und Gesehenwerden ständig ineinander übergehen. Aber an der entscheidenden Stelle bleibt ein blinder Fleck. Das von außen so beschauliche Leben junger Paare und Familien ist nur Fassade. Dahinter toben Eifersucht, Affären, Lügen und eine erdrückende Leere.

E. Hirschmann-Altzinger

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