Autobiografische Notizen in "Nachmittage"

Buch der Woche: Von Schirachs leise Erzähltöne

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Zitate, Betrachtungen, Unterhaltungen – in „Nachmittage“ geht es leise zu.

Erzählband. Meist beinhalten die Bücher von Ferdinand von Schirach die ganz großen Themen der Menschheit: Schuld, Sühne, Gerechtigkeit. Als Ausgangspunkt dienen dem Autor und Strafverteidiger öfter Fälle aus seinem juristischen Alltag, die er literarisch verarbeitet.

Die Dramatik und die moralischen Inhalte – seine Bücher regen die Leser zum Nachdenken über eigene Werte an. Nicht minder anregend ist nun sein neues Werk, das den schlichten Titel „Nachmittage“ trägt.

Feine, kluge Betrachtungen des Alltags

Vielerorts. Diese Kurzgeschichtensammlung, die von Schirach hier vorlegt, dreht sich nicht um philosophisch Großes, sondern um die leisen, flüchtigen Betrachtungen.

Es sind kleine Notizen zu Begegnungen, die sich an Orten wie Taipeh, in Venetien oder New York abspielen. Es tauchen im Text Zitate von Schriftstellern wie Goethe auf oder Erwähnungen über Literatinnen wie Ingeborg Bachmann. Die Kapitel sind simpel ohne Titel, nur nummeriert und wenige Seiten lang.

Derzeit auf Platz zwei der Buchcharts

Pageturner. Eine Betrachtung führt den Leser nach Wien, der Erzähler begegnet dort einer älteren Schauspielerin. Diese schildert ihm eine Anekdote aus ihrem bewegten Leben und schwupps wird man eingesogen in den Text. Schnell blättert man zur nächsten Episode, die sich ganz anders gestaltet: Darin dreht sich alles um eine polnische Journalistin, die vor der Zensur in ihrem Land flüchtet und Samuel Beckett zitiert.

Nach „Kaffee und Zigaretten“ ist „Nachmittage“ der neue Wurf in dieser Art, rangiert auf Platz zwei der Buchcharts, war aber auch schon in der Poleposition zu finden.

(leo)

 

Auszug aus der Erzählsammlung "Nachmittage"

Leseprobe aus Kapitel zwei von „Nachmittage“: Isadora Duncan, genannt „Die Duncan“, war eine berühmte Tänzerin. Ihre Kinder und das Kindermädchen ertranken in der Seine in Paris, weil der Chauffeur vergessen hatte, die Handbremse anzuziehen. Später heiratete die Duncan den siebzehn Jahre jüngeren russischen Dichter Sergej Jessenin.

Drei Jahre nach der Hochzeit schnitt er sich, inzwischen mit Sofia ­Tolstaja, der Enkelin Leo Tolstois, verheiratet, im Leningrader Hotel Angleterre mit einer Rasierklinge den Unterarm auf, tunkte die Feder ins Blut, schrieb ein letztes Gedicht und erhängte sich an den Heizungsrohren, die an der Zimmerdecke verliefen. Zwei Jahre später verfing sich der rote Seidenschal der Duncan in der rechten Hinterfelge des Bugatti, in dem sie saß. Ihr Körper schlug ­gegen das Wageninnere, Nase, Wirbelsäule und Kehlkopf brachen, die Halsschlagadern zerbarsten, sie starb im Krankenhaus. Als Gertrude Stein vom Tod der Duncan erfuhr, sagte sie: „Affektiertheit kann gefährlich sein.

Leseprobe aus Kapitel drei: „Je mehr man über sich selbst und über das, was man will, weiß, desto weniger lässt man an sich ran“, sagt Bill Murray im Film „Lost in Translation“. Es war Sofia Coppolas zweiter Film und es war unklar, ob Bill Murray überhaupt am Drehort erscheinen würde.

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