Prozess

Medikament bewirkte Messerattacke

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Psychisch Kranke bekommt es dennoch weiter.

Ein Schwurgericht hat sich am Montag am Wiener Landesgericht mit einer psychisch kranken Frau befasst, die im vergangenen Frühjahr in einer Gemeindebauanlage in Simmering mit einem Taschenmesser auf mehrere Frauen eingestochen und zwei von ihnen verletzt hat. Schuld daran war ein Medikament, das ihr gegen ihre epileptischen Anfälle verschrieben wurde, obwohl erwiesen ist, dass es aggressiv macht.
 
Die 54-Jährige dürfte von weiteren Anrainern der Wohnhausanlage schon länger gehänselt worden sein. Die Frau wiederum soll speziell Kindern gegenüber verhaltensauffällig, teilweise sogar handgreiflich geworden sein. Am 27. Mai eskalierte ein Streit, die Kranke zückte ein Schweizer Messer und stach die Waffe mit einer Klingenlänge von sieben Zentimetern einer Kontrahentin in einer Tiefe von fünf Zentimetern in den Bauch, einer anderen drei Zentimeter tief in den Rücken. Beide Frauen erlitten leichte Verletzungen.
 
Die Täterin wurde festgenommen - und bekommt bis zum heutigen Tag dasselbe Medikament, obwohl dieses dem psychiatrischen Sachverständigen Karl Dantendorf zufolge kausal für die Messerattacke war. Die Justiz war aus organisatorischen bzw. personellen Gründen bisher außerstande, eine adäquate Unterbringung der Frau mit einer Umstellung der Medikation zu ermöglichen, obwohl eine entsprechende Einrichtung dafür zur Verfügung stünde, wie Dantendorfer deutlich machte.
 
Die Nebenwirkungen des Antiepileptikums Fycompa, das die 54-Jährige seit 2015 einnimmt, sind bekannt. Im Beipackzettel wird davor gewarnt, dass es in Einzelfällen "Aggressionen und feindseliges Verhalten" auslösen kann. Die Europäische Arzneimittelagentur weist darauf hin, dass bei einigen Patienten, die das Mittel einnehmen, "Angriffe gegen andere Personen" beobachtet wurden. Noch deutlicher äußert sich die US-Arzneimittelbehörde, die sogar von "mörderischem Verhalten" (homicidal behavior) spricht.
 
Die 54-Jährige leidet seit frühester Kindheit an Epilepsie. Über Jahrzehnte hinweg traten wöchentlich fünf bis zehn schwere Anfälle auf. Die Frau, die keinem geregelten Leben mit einer Berufstätigkeit nachgehen konnte, verübte insgesamt 20 Selbstmordversuche. Schließlich wurde von den behandelnden Ärzten ein neues Mittel ausprobiert - "in Verzweiflung nach 50 Jahren erfolgloser Behandlung", wie Gerichtspsychiater Dantendorfer in der Verhandlung erklärte. Man habe sich dafür entschieden, ein ärztliches Risiko einzugehen, um der Patientin helfen zu können.

Wut im Bauch

Die 54-Jährige bemerkte selbst, dass das neue Antiepileptikum ihre Persönlichkeit veränderte. "Ich hab' gespürt, dass die Wut im Bauch gestiegen ist", verriet sie dem Schwurgericht (Vorsitz: Andreas Böhm). Sie erzählte das auch ihren Ärzten, die darauf die Dosis reduzierten. Die plötzliche Aggressionsbereitschaft der Frau blieb allerdings erhalten, wie diese später Dantendorfer, der sie zwei Mal eingehend untersucht hat, berichtete. "Früher hab' ich mir auf den Kopf scheißen lassen müssen. Jetzt mit dem neuen Medikament lasse ich mir nichts mehr gefallen. Und das ist gut so", notierte der Gutachter eine Aussage der Patientin.
 
Nach ihrer Festnahme kam die Frau zuerst in der Justizanstalt Josefstadt in U-Haft. Im Hinblick auf ihre Erkrankung - laut Dantendorfer war sie aufgrund ihrer seelisch-geistigen Abartigkeit höheren Grades zum Tatzeitpunkt zurechnungsunfähig - wurde dies in eine vorläufige Anhaltung in einer Krankenanstalt umgewandelt. Dass man ihr dort weiter Fycompa verabreicht, hat zur Folge, "dass sie derzeit selbstverständlich gefährlich und aggressiv ist und das jederzeit wieder zum Durchbruch kommen kann", sagte Dantendorfer. Mit neuerlichen Straftaten mit schweren Folgen müsse gerechnet werden.

Verlegung vorgeschlagen

Sollte allerdings Fycompa abgesetzt werden, "ist es hochwahrscheinlich, dass sie in relativ kurzer Zeit wieder so harmlos werden wird, wie sie vorher war", betonte Dantendorfer. Mit dem Neurologischen Zentrum Rosenhügel wäre eine Einrichtung vorhanden, wo die 54-Jährige stationär aufgenommen sowie das Medikament unter entsprechender Überwachung abgesetzt und durch ein anderes ersetzt werden kann. Wie die Verfahrenshelferin der Frau, die Wiener Rechtsanwältin Christine Wolf, erklärte, habe sie im Hinblick darauf "schon vor Monaten" eine Verlegung der Frau vorgeschlagen. Diese sei mit einem Medikamentenwechsel ausdrücklich einverstanden. Eine Überstellung der Patientin auf den Rosenhügel scheiterte allerdings letztlich an den Kapazitäten der Justizwache. Zwei Beamte hätten zur Bewachung der 54-Jährigen abgestellt werden müssen. Dafür hat die Justizanstalt Rosenhügel nicht genug Personal.
 
"Es ist zweifellos eine Schwachstelle in unserem System, dass das nicht besser organisierbar war", stellte Gerichtspsychiater Dantendorfer fest. Man müsse die Frau stufenweise auf ein anderes Medikament umstellen: "Die Alternative wäre, dass man ihr das Medikament lässt und sie lebenslang einsperrt."

Aktualisierung

In Anstalt eingewiesen - Die 54-Jährige Frau ist vom Schwurgericht in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen worden. Die Geschworenen werteten die beiden Messerstiche nicht - wie im Unterbringungsantrag seitens der Staatsanwaltschaft angenommen - als zweifachen Mordversuch, sondern jeweils als versuchte absichtliche schwere Körperverletzung.
 
Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Verfahrenshelferin Christine Wolf erbat Bedenkzeit.
 
Wie der vorsitzende Richter Andreas Böhm ausführte, war die 54-Jährige aufgrund der Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen "zwingend einzuweisen". Sie sei "aufgrund der jetzigen Medikation hochgefährlich". Es sei Aufgabe der Sonderstrafanstalt, in welcher die Frau untergebracht wird, "ihr zu helfen und das jetzige Medikament abzusetzen". Sollte danach - wie vom Gutachter prognostiziert - von ihr keine Gefahr mehr ausgehen, "müssen Sie nach einer mehrmonatigen Beobachtungsphase auf freien Fuß gesetzt werden", erklärte Böhm der Betroffenen.
 
Formal wird die Einweisung allerdings zeitlich unbefristet ausgesprochen. Die 54-Jährige hat jedoch einen Rechtsanspruch darauf, dass regelmäßig überprüft wird, ob diese noch gerechtfertigt ist.
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