Geschworene verwarfen Mordanklage, Berufsrichter akzeptierten das nicht.
Kein Urteil hat es am Mittwoch am Wiener Landesgericht im Prozess gegen einen 35-jährigen Mann gegeben, der vor fast 18 Jahren an einem grausamen Mafia-Mord beteiligt gewesen sein soll. Die Geschworenen sprachen den gebürtigen Chinesen vom Mordvorwurf frei und erkannten auf Beteiligung an einer Körperverletzung mit tödlichem Ausgang. Die drei Berufsrichter akzeptierten diese Entscheidung nicht.
Sie setzten den Wahrspruch - die Laienrichter hatten den Mord mit 4:4 Stimmen und damit mit dem knappest möglichen Quorum zugunsten des Angeklagten verneint - wegen Irrtums der Geschworenen aus. Die Verhandlung muss damit in einigen Wochen bzw. Monaten vor einem zur Gänze neu zusammengesetzten Schwurgericht wiederholt werden. Der Angeklagte bleibt bis dahin in U-Haft.
Entrüstung
Die Verteidiger Nikolaus Rast und Alfred Boran reagierten auf die Entscheidung der Berufsrichter entrüstet. "Wozu braucht man die Geschworenengerichtsbarkeit, wenn derzeit jedes Urteil ausgesetzt wird?", gaben sie unmittelbar nach der Verhandlung gegenüber der APA zu bedenken. Tatsächlich zeigt die Laiengerichtsbarkeit bei Kapitalverbrechen derzeit Schwächen: im Grauen Haus ist seit vergangenem Donnerstag bei nicht weniger als drei Schwurverhandlungen - prozessgegenständlich waren dabei neben dem Mord im Dunstkreis der Chinesen-Mafia eine versuchte Anstiftung zum Mord sowie ein Mordversuch - der Wahrspruch jeweils ausgesetzt worden, weil die Geschworenen nach Ansicht der Berufsrichter durchwegs irrten.
Im heutigen Fall hatte der Angeklagte eingeräumt, in der Nacht auf den 23. August 2000 am Tatort gewesen zu sein und das Opfer - eine damals 19 Jahre alte Chinesin - gefesselt zu haben, als diese von insgesamt vier Männern in einem Pkw von einer Wohnung in Wien-Ottakring nach Leobersdorf (Bezirk Baden) gebracht wurde. Dass sie dort in ein Gebüsch dirigiert und mit einem Hackbeil regelrecht hingerichtet wurde - der Kopf wurde beinahe zur Gänze vom Rumpf getrennt -, hätte er nicht geahnt. Überhaupt habe er vom Ableben der 19-Jährigen erst am nächsten Tag aus der Zeitung erfahren, lautete die Verantwortung des Angeklagten.
"Kleiner, unerfahrener Bub"
Sein Mandant sei im Tatzeitpunkt erst 18 Jahre alt gewesen und hätte sich mit einem Mann angefreundet, der ihn wie einen kleinen Bruder behandelte, betonte Verteidiger Rast zu Beginn der Verhandlung: "Er war ein kleiner, unerfahrener Bub." Dass der Bekannte der Boss einer chinesischen Mafia-Bande namens "Snake Heads" war, die sich auf Menschenhandel und Schlepperei spezialisiert hatte, hätte der Angeklagte erst viel später durchschaut.
Fest steht, dass der damals 18-Jährige für den Banden-Boss und dessen Umfeld Dolmetsch-Dienste leistete und dafür immer wieder Geld bekam. Fest steht auch, dass er eines Tages in eine Wohnung im 16. Bezirk gerufen wurde, wo die 19-Jährige und deren Freund festgehalten wurden. Dieser - ein 25-jähriger Chinese - soll der zweite starke Mann in der Mafia-Bande gewesen sein und dem Boss einen größeren Geldbetrag geschuldet haben. Außerdem dürfte die Nummer eins befürchtet haben, der 25-Jährige wolle ihn überflügeln. Folglich soll er die Hinrichtung des Konkurrenten befohlen haben.
"Wir wollen sie nur erschrecken"
Zunächst wurde der 25-Jährige von mehreren Banden-Mitgliedern mit einem Auto nach Bruck an der Leitha gebracht und dort mit einem Hackbeil umgebracht. Seine Freundin blieb zunächst als Gefangene in der Ottakringer Wohnung zurück, ehe der Kopf der Bande sich einige Stunden später entschloss, auch sie als Mitwisserin töten zu lassen. Vier Männer wurden auserkoren, die die 19-Jährige aus der Wohnung brachten, darunter der Angeklagte.
Als er aufgefordert wurde, mit der Frau und drei Landsmännern wegzufahren, sei er davon ausgegangen, dass sie außer Landes gebracht werden sollte, versicherte dieser dem Schwurgericht: "Mir ist gesagt worden, dass die Schulden bezahlt wurden." Plötzlich hätte der Fahrer ihm befohlen, die 19-Jährige zu fesseln, die sich neben ihm im Fonds des Wagens befand, schilderte der Angeklagte die Vorgänge während der Autofahrt. Auf seine Frage nach dem Warum sei ihm erklärt worden: "Wir wollen sie nur erschrecken, dass sie nicht zur Polizei geht."
Die Fahrt endete an einer Autobahnraststätte, wo die junge Frau aus dem Pkw bugsiert und exekutiert wurde. Der Angeklagte behauptete, er wäre im Auto sitzen geblieben, hätte die 19-Jährige "Nein" rufen gehört, aber sonst nichts mitbekommen. Als zwei Männer ohne die 19-Jährige zum Auto zurückkehrten und es retour nach Wien ging, "habe ich gedacht, sie ist abgeholt worden von einem Transporter nach Italien".
Beweislage schwierig
Das Schicksal der 19-Jährigen und ihres ebenfalls verschwundenen Freundes sei während der Fahrt nach Wien und später in der Wohnung im 16. Bezirk, wo der Boss der Bande wartete, kein Thema mehr gewesen. "Ich wollte nur, dass die mich schnell nach Hause lassen", skizzierte der Angeklagte den weiteren Verlauf der Nacht. Er habe sich "keine weiteren Gedanken über die Frau gemacht. Ich wollte nur schnell weg. Eine warme Dusche nehmen und schlafen".
Der Staatsanwalt hielt diese Darstellung für nicht glaubwürdig. Die Beweislage gestaltete sich allerdings insofern schwierig, als von den drei Männern, die sich neben dem Angeklagten im Auto befunden hatten, keiner für die Justiz greifbar ist. Zwei konnten überhaupt nie ausgeforscht und dingfest gemacht werden, und der Fahrer, der an beiden Morden beteiligt war und dafür rechtskräftig zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, ist mittlerweile flüchtig. Nachdem er 16 Jahre abgesessen hatte, sollte er auf seine mögliche bedingte Entlassung vorbereitet werden. Er nutzte im Jahr 2016 seinen ersten Freigang, um sich abzusetzen. Seither fehlt von ihm jede Spur.
Der Boss der "Snake Heads"-Bande ist nicht mehr am Leben. Nachdem er kurz nach dem Doppelmord festgenommen wurde, hatte er in der Justizanstalt Selbstmord verübt. Er hinterließ einen Abschiedsbrief, in dem er die Verantwortung für die Bluttaten übernahm.