Die SPÖ-Chefin im großen ÖSTERREICH-Interview.
ÖSTERREICH: Was läuft bei der Impfung schief?
Pamela Rendi-Wagner: Die Impfung ist die einzige Möglichkeit, unsere Freiheit wiederzuerlangen. Daher muss alles getan werden, um zu Impfungen zu kommen. Was ist schief gelaufen? Da können wir lange darüber reden. Was muss jetzt passieren? Ich glaube, die EU und die Mitgliedsstaaten müssen endlich durchgreifen und Zähne zeigen. Auch gegenüber den Pharmakonzernen, und nicht wie das Kaninchen vor der Schlange in Angststarre verfallen. Hier geht es um Millionen Arbeitsplätze, um unseren Wohlstand und natürlich vor allem um Menschenleben. Es geht um Leben und Tod.
ÖSTERREICH: Wie kann die EU zu mehr Impfstoff kommen?
Rendi-Wagner: Ziel muss sein, in Europa mehr Impfstoff zu produzieren. Viele Pharmafirmen könnten umrüsten und die Impfstoffe für Pfizer & Co mitproduzieren – einige machen das schon. Diese Krisenproduktion ist dringend notwendig. Die EU und die Firmen müssen an einem Strang ziehen und so viel wie möglich produzieren. Bei den in Österreich verfügbaren Dosen darf kein Tropfen an Impfstoff vergeudet werden, es müssen beispielsweise sieben statt sechs Dosen aus jeder Ration gezogen werden. Das wären zusätzliche 10.000 Dosen pro Woche. Die Regierung sollte auch mit Ländern außerhalb der EU reden, wie mit der Türkei oder Israel, die mehr Impfstoff gekauft haben, als sie selber brauchen. Es wäre logisch, von Israel welchen zu beziehen.
ÖSTERREICH: Wann rechnen Sie damit, dass in Österreich jeder geimpft ist, der will?
Rendi-Wagner: Ich wünschte, wir könnten sagen, wir können im Februar alles lockern, weil die Durchimpfungsrate so stark wie in Israel gestiegen ist. Leider ist das nicht der Fall – wir wissen es einfach nicht, weil es keinen Plan der Regierung gibt. Und das macht zornig.
ÖSTERREICH: Muss Anschober zurücktreten?
Rendi-Wagner: Wir stehen am Höhepunkt der größten Gesundheits- und Arbeitsmarktkrise. Die Regierung hat die Verantwortung wahrzunehmen. Da bringen uns Rücktrittsdiskussionen überhaupt nichts.
ÖSTERREICH: Die Infektionszahlen sinken nicht wirklich. Woran liegt das? Dass sich die Menschen nicht mehr an den Lockdown halten? Oder an den Mutationen?
Rendi-Wagner: Ich denke, es ist eine Mischung aus beiden, dass es diesen Rückgang der Fallzahlen nicht stärker gibt, den wir und die Regierung sich wünschen. Grundsätzlich wirkt der Lockdown. Ohne die Einschränkungen gäbe es viel, viel mehr Infektionen. Bei der 7-Tage-Inzidenz stellen wir schon einen sinkenden Trend fest – der aber sicher viel zu schwach für einen totalen Lockdown ausfällt. Eine gewisse – verständliche – Corona-Müdigkeit in der Bevölkerung ist nicht zu leugnen. Nach elf Monaten wird jeder müde, und die Menschen sind auch ein bisschen angefressen auf das Maßnahmen-Chaos der Regierung.
ÖSTERREICH: Ist Ihrer Meinung nach eine vorsichtige Öffnung der Schulen und des Handels ab 8. 2. möglich?
Rendi-Wagner: Die Situation ist schwierig zu bewerten, weil die Zahlen heute noch zu hoch sind. Öffnen wir zu früh bei immer noch hohen Zahlen, besteht angesichts der Mutation wieder die Gefahr einer Überforderung der Krankenhäuser. Und dann brauchen wir Ende Februar den nächsten Lockdown. Deshalb sagen die Experten, lieber runter auf einen Zielwert unter 1.000 pro Tag, Richtung 50 in der 7-Tage-Inzidenz. Wenn die Zahlen weiter so bleiben, spricht das aus meiner und der Sicht vieler Experten dagegen, dass am 8. alles geöffnet wird. Wir müssen einfach noch weiter runter.
ÖSTERREICH: Aber es bedarf doch – gerade in der Schule – einer gewissen Vorbereitung und Planbarkeit?
Rendi-Wagner: Deshalb darf sich die Regierung im Lockdown nicht zurücklehnen, sondern muss jeden Tag nützen, das Land auf den Tag nach dem Lockdown vorzubereiten – vor allem auch die Schulen. Wir haben gemeinsam eine kluge Teststrategie entwickelt. Die muss gerade auch in den Schulen umgesetzt werden. Wenn das passiert, ist Präsenzunterricht ab dem 8. 2. möglich.
ÖSTERREICH: Wäre ein Schichtbetrieb die beste Lösung?
Rendi-Wagner: Schichtbetrieb ist zwar schwierig zu organisieren und kostet auch wieder Unterrichtsstunden, aber es ist besser als gar nichts. Wichtig ist, die Schulen sicher zu machen. Deshalb: FFP2-Masken, das Lehrpersonal mindestens zweimal die Woche in der Früh testen, aber auch flächendeckende Schnelltests für Schülerinnen und Schüler.
ÖSTERREICH: Sollen die Skilifte und Gondeln geschlossen werden, die in Ostösterreich für Aufregung sorgen?
Rendi-Wagner: Zum einen muss man sich anschauen, welches Infektionsrisiko der Skibetrieb tatsächlich darstellt, andererseits aber auch den symbolischen Effekt: Was bewirken die Bilder, die wir sehen: von den Partys, den überfüllten Pisten und Liften? Das sorgt natürlich für einen gewissen Zorn bei Leuten, die seit Wochen eingesperrt sind, den ich nachvollziehen kann. Ich denke schon, dass es hier stärkere Kontrollen geben muss – wie auch bei den Einreisebeschränkungen, die von vielen umgangen werden.
ÖSTERREICH: Es gibt auffallend viele Gespräche zwischen Ihnen und dem Kanzler. Sind Sie die Schatten-Gesundheitsministerin?
Rendi-Wagner: Miteinander reden hat noch nie geschadet. Ich bin jemand, der immer den Dialog sucht. Wann, wenn nicht in so einer Krise, macht es Sinn, sich auszutauschen? Es ist jetzt elf Monate nicht mit den Parlamentsparteien geredet worden und es sollte doch für eine Bundesregierung selbstverständlich sein, auf die Opposition und Bundesländer zuzugehen.
ÖSTERREICH: Die Abschiebung gut integrierter Jugendlicher und Kinder sorgt für Empörung. Sehen Sie noch eine Möglichkeit, dagegen vorzugehen?
Rendi-Wagner: Es macht mich als Mensch fassungslos, wenn gut integrierte Kinder mitten in der Nacht abgeschoben werden, die teilweise sogar hier geboren wurden und in die Schule gehen. Der Innenminister lässt mutmaßliche Terroristen unbehelligt Waffen kaufen, aber für Kinder gibt es die volle Härte. Das ist beschämend.
ÖSTERREICH: Hätte es die Abschiebungen mit der SPÖ in der Regierung gegeben?
Rendi-Wagner: Ich bin überzeugt, dass ein SPÖ-Innenminister das Kindeswohl berücksichtigt hätte. Die ÖVP stellt seit 20 Jahren den Innenminister und ist damit auch für die langen Verfahrensdauern verantwortlich. Außerdem gibt es die Möglichkeit des humanitären Bleiberechts. Der aktuelle Innenminister ist einen anderen Weg gegangen, nämlich den der vollen Härte.