Indien hat geschafft, woran viele Länder scheitern: Die Zahl der wild lebenden Tiger ist seit 2006 deutlich gestiegen – um ganze 161 Prozent.
Zählte man damals noch 1.411 Tiere, leben heute laut der offiziellen Zählung aus dem Jahr 2022 3.682 Tiger in freier Wildbahn. Damit beheimatet Indien rund 75 Prozent der weltweiten Tigerpopulation – ein bemerkenswerter Erfolg für den globalen Artenschutz.
Die Regierung feiert den Anstieg als Beleg für ihr langfristiges Engagement im Schutz der Großkatzen. Tatsächlich sind in den letzten Jahren zahlreiche Maßnahmen umgesetzt worden: die Ausweitung von Schutzgebieten, der Aufbau eines flächendeckenden Netzwerks von heute 53 Tigerreservaten, verstärkte Anti-Wilderei-Maßnahmen sowie der Einsatz moderner Überwachungstechnologien wie Kamerafallen und GPS-Tracking.
Bereits 1973 wurde unter dem Namen „Project Tiger“ ein nationaler Schutzplan aufgelegt. Was damals mit wenigen Reservaten begann, ist heute ein komplexes Managementsystem, das Schutz, Forschung, Tourismus und lokale Entwicklung miteinander verbinden soll. Tiger gelten in Indien mittlerweile nicht nur als bedrohte Tierart, sondern auch als Aushängeschild des Naturschutzes und – nicht zuletzt – als Tourismusfaktor.
Doch mit dem Erfolg kommen neue Herausforderungen.
Denn während die Zahl der Tiere steigt, schrumpft der geeignete Lebensraum. Wälder werden gerodet, zerschnitten oder durch Straßen- und Siedlungsbau fragmentiert. Viele Reservate sind mittlerweile ökologisch isoliert, ein genetischer Austausch zwischen den Populationen findet nur noch selten statt.
Laut dem jüngsten Bericht der National Tiger Conservation Authority (NTCA) sind rund ein Viertel der Reservate in einem „kritisch gefährdeten“ Zustand – nicht wegen der Tiger, sondern wegen des Zustands der Landschaft.
Das hat Folgen: Tiger beginnen, außerhalb der Schutzgebiete nach Nahrung und Revier zu suchen. Es kommt vermehrt zu Konflikten mit der Landbevölkerung. Vieh wird gerissen, Felder durchstreift, und es gab auch tödliche Zwischenfälle mit Menschen. Die Akzeptanz für Tigerschutz leidet – vor allem dort, wo die Bevölkerung keinen direkten Nutzen davon hat.
Hinzu kommen regionale Unterschiede in der Umsetzung. Während einige Schutzgebiete hervorragend ausgestattet sind und internationale Standards erfüllen, kämpfen andere mit veralteter Ausrüstung, Personalengpässen oder fehlender Finanzierung. Entschädigungszahlungen bei Tierverlusten kommen oft zu spät oder gar nicht, und viele Menschen im Umfeld der Reservate fühlen sich von den Gewinnen des Tigertourismus ausgeschlossen.
Das ist ein Problem, denn langfristiger Artenschutz funktioniert nur mit lokaler Unterstützung. Wenn Menschen den Tiger als Bedrohung oder fremdbestimmtes Projekt wahrnehmen, wächst die Bereitschaft zu Widerstand – im schlimmsten Fall sogar zur illegalen Tötung.
Der Tiger ist nicht nur eine Einzelart – er ist ein Indikator für den Zustand ganzer Ökosysteme. Wo Tiger leben, müssen Wälder intakt sein, Wasserquellen funktionieren, und ein Gleichgewicht zwischen Raubtieren und Beutetieren bestehen. Der Schutz des Tigers bedeutet deshalb auch den Schutz unzähliger anderer Arten – und ganzer Landschaften.
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Indien hat mit dem Tigeraufbau einen wichtigen Beitrag zum globalen Artenschutz geleistet. Doch das Erreichte kann schnell wieder verloren gehen, wenn Lebensräume weiter zerschnitten und Mensch-Tier-Konflikte nicht entschärft werden.
Um den langfristigen Erfolg zu sichern, braucht es:
- die Wiedervernetzung von Lebensräumen durch Wildtierkorridore,
- die faire Einbindung lokaler Gemeinschaften in Tourismus und Schutzmaßnahmen,
- verlässliche Entschädigungszahlungen bei Schäden,
- und den politischen Willen, Naturschutz auch gegenüber wirtschaftlichen Interessen zu verteidigen.
Der Anstieg der Tigerzahlen ist ein Hoffnungssignal. Doch die Frage, ob Indien den Tiger dauerhaft retten kann, wird nicht allein im Wald entschieden, sondern vor allem in der Art, wie Landnutzung, Entwicklung und Naturschutz künftig zusammengedacht werden.