Nicht nur die oppositionellen Republikaner werfen dem Präsidenten eine katastrophale Afghanistan-Politik vor
In den USA wächst angesichts des rasanten Eroberungsfeldzugs der radikalislamischen Taliban in Afghanistan die Kritik an Präsident Joe Biden. Nicht nur die oppositionellen Republikaner werfen dem Präsidenten eine katastrophale Afghanistan-Politik vor - schwere Schuldzuweisungen kommen auch von liberalen Medien wie der "Washington Post". Experten warnen, dass Afghanistan zum Schandfleck auf Bidens politischem Erbe werden könnte.
Das Tempo, in dem die Taliban in den vergangenen Wochen Städte und Provinzen in Afghanistan unterworfen haben und jetzt bis nach Kabul vorgedrungen sind, hat die USA unvorbereitet getroffen - das unterstreichen zusammengeschnittene Videos, mit denen US-Medien zuletzt die Afghanistan-Politik Washingtons anprangerten. Hier aktuelle Bilder von Taliban-Flaggen auf den zentralen Plätzen der großen Provinzhauptstädte, dort der US-Präsident, der noch vor wenigen Wochen sagte: "Dass die Taliban alles überrennen und das ganze Land kontrollieren werden, ist extrem unwahrscheinlich."
Vermeidbares Desaster
Inzwischen ist das Gegenteil der Fall: Höchst unwahrscheinlich ist, dass die afghanische Armee ihre letzte Bastion, die Hauptstadt Kabul, langfristig verteidigen kann. Am Sonntag drangen die Taliban an den Stadtrand Kabuls und teilweise auch ins Stadtgebiet vor. Drei Billionen Dollar, die in den vergangenen 20 Jahren aus den USA nach Afghanistan flossen, fast 2.500 gefallene US-Soldaten - sie waren aus Sicht von Kritikern vergeblich.
Die durch eine künftige Taliban-Herrschaft zerstörten afghanischen Leben würden das politische Erbe Bidens einst ebenso bestimmen wie "die Dollar und US-Leben, die durch seine Entscheidung vielleicht verschont werden", schrieb die "Washington Post" in einem wütenden Leitartikel. Mit dem überhasteten Truppenabzug habe Biden Fortschritte etwa im Bereich der Mädchenbildung aufs Spiel gesetzt.
Von einem "vermeidbaren Desaster" in Afghanistan sprach der Mehrheitsführer der Republikaner im Senat, Mitch McConnell. Auch Ex-US-Präsident Donald Trump, dessen im Februar 2020 geschlossenes Abkommen mit den Taliban den internationalen Truppenabzug überhaupt erst einleitete, meldete sich zu Wort. Biden habe ein "tragisches Chaos" verursacht, erklärte Trump und fügte in Großbuchstaben hinzu: "Vermisst ihr mich schon?"
Keine Reue
Biden selbst ließ bisher keine Reue für seine Abzugsentscheidung erkennen. Der ansonsten für sein empathisches Auftreten bekannte Präsident zeigte sich bei Reporterfragen nach dem Schicksal der Afghanen wiederholt ungerührt. Die Afghanen müssten jetzt für "sich selbst kämpfen", sagte er.
Biden argumentiert mit der US-Verantwortung für die US-Soldaten - und damit, dass das US-Engagement in Afghanistan kostspielig, aber angesichts der Spannungen mit China kaum mehr im strategischen US-Interesse sei. Zudem hätten die USA ihr Ziel erreicht, Al-Kaida zu bekämpfen und mit der Ausbildung von 300.000 Soldaten mehr als genug für Afghanistan getan.
Er sei bereits der vierte US-Präsident, der die Verantwortung über die Truppenpräsenz Afghanistan trage, erinnerte Biden am Samstag. "Ich werde diesen Krieg nicht an einen fünften Präsidenten weitergeben."
Ignoriert habe Biden die "psychologische" Wirkung, die der vollständige US-Truppenabzug in Afghanistan habe, kritisiert der Afghanistan-Experte Andrew Wilder vom US Institute of Peace. Der Abzug habe in Afghanistan eine Atmosphäre geschaffen, in der ein Sieg der Taliban "unausweichlich" erscheine. Dies habe den Kampfgeist der Afghanen beschädigt.
Der Experte Brian Katulis vom linksgerichteten Center for American Progress sieht in Bidens Afghanistan-Politik auch einen Widerspruch zu dessen Versprechen, die Demokratie in der Welt zu verteidigen. Wie hoch der politische Preis sei, den Biden für seine Afghanistan-Politik werde bezahlen müssen, hänge davon ab, wie "hässlich" sich die Taliban-Herrschaft entwickle. Eine "Serie von Gräueltaten, die nur Afghanen betreffe", werde wohl nur ein "gleichgültiges Schulterzucken" hervorrufen, wie es bereits im Fall Syrien zu beobachten sei, sagte Katulis. "Wenn aber auch Amerikaner betroffen sein sollten, ist alles möglich."