Parlamentswahl in der Türkei unter hohen Sicherheitsvorkehrungen.
In einer äußerst aufgeheizten politischen Atmosphäre wählten die Türken am heutigen Sonntag zum zweiten Mal binnen fünf Monaten ein neues Parlament. Trotz scharfer Sicherheitsvorkehrungen bildeten sich vor vielen Wahllokalen im Land lange Warteschlangen. Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte die Neuwahl angesetzt, weil nach der Wahl im Juni keine Koalition zustande gekommen war.
Erdogan verteidigt Neuwahl
Bei seiner Stimmabgabe äußerte der Chef der pro-kurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtas, die Erwartung, dass der Wahlausgang "Hoffnung auf Frieden" weckt. Dies brauche die Türkei im Moment am meisten, sagte er. Erdogan, der die Wähler erneut zu einem Votum für eine Ein-Parteien-Regierung aufgerufen hatte, verteidigte wiederum bei seiner Stimmabgabe in Istanbul erneut seine Neuwahl-Entscheidung. Parallel dazu berichtete die türkische Nachrichtenagentur Anadolu am Sonntag, dass die Streitkräfte der Türkei und der USA mit turkmenischen Kräften eine Offensive gegen Stellungen der jihadistischen Organisation "Islamischer Staat" (IS) nahe der syrisch-türkischen Grenze begonnen hätten.
Nach dem Patt im Juni sei dies eine "Notwendigkeit" gewesen", sagte Erdogan. Zudem erklärte er, dass man den "nationalen Willen" respektieren werden müsse, der bei der Wahl zum Ausdruck komme. "Die Türkei hat in Sachen Demokratie eine weite Strecke zurückgelegt", betonte der Staatspräsident und fügte hinzu: "Und das wird durch die heutige Wahl nochmals bestätigt." Auch Regierungschef Ahmet Davutoglu forderte die rund 54 Millionen Stimmberechtigten auf, den Wahltag zu einem "Fest der Demokratie" zu machen.
Absolute Mehrheit weg
Die islamisch-konservative AKP von Erdogan will bei diesen Parlamentswahlen ihre absolute Mehrheit zurückerobern, die sie im Juni verloren hatte. Die zentrale Frage ist, ob der AKP das gelingen kann, wenn die pro-kurdische HDP erneut die Zehn-Prozent-Hürde überwindet und ins Parlament einzieht. Umfragen deuten nicht darauf hin, dass die AKP die dafür notwendigen mindestens 276 Sitze gewinnen wird, es ist aber auch nicht gänzlich ausgeschlossen.
Bei der Abstimmung im Juni war Erdogans konservativ-islamische AKP zwar die mit Abstand stärkste Kraft geblieben, hatte aber erstmals seit 13 Jahren ihre absolute Mehrheit verloren. Damit scheiterte auch Erdogans Plan, per Verfassungsreform ein Präsidialsystem mit sich selbst an der Spitze einzuführen. Die pro-kurdische Partei HDP schaffte es damals zum ersten Mal über die Zehnprozenthürde und nahm der AKP damit entscheidende Sitze ab.
Der diesmal eher zurückhaltend geführte Wahlkampf wurde von Gewalt überschattet. Seit im Juli eine Waffenruhe zusammenbrach, eskaliert der Konflikt mit der in der Türkei verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) wieder. Die PKK hatte ihre Angriffe im vergangenen Monat bis zur Neuwahl am Sonntag ausgesetzt. Viele Beobachter befürchten, dass die neuerliche Parlamentswahl die tiefe politische Spaltung des Landes aber nicht beenden wird.
Nach der Juni-Wahl wurde die Türkei zudem von Anschlägen erschüttert. Ankara lastet sie der jihadistischen Organisation "Islamischer Staat" (IS) an. Dass die IS-Anhänger je offiziell die Verantwortung für die ihnen angelasteten Anschläge übernahmen, ist aber nicht bekannt - üblicherweise veröffentlichen die Extremisten binnen kürzester Zeit nach vermeintlich von ihnen verübten Attentaten Bekennerschreiben.
Wegen der Spannungen und aus Angst vor neuen Anschlägen wurde der Urnengang von fast 400.000 Sicherheitskräften abgesichert. In der mehrheitlich von Kurden bewohnten Stadt Diyarbakir und im gesamten Südosten der Türkei bezog die Polizei mit gepanzerten Fahrzeugen vor Wahllokalen Stellung.
Die Neuwahl war notwendig geworden, weil sich Erdogans AKP nach der Wahl im Juni mit keiner Oppositionspartei auf eine Koalition einigen konnte. In Umfragen lag die AKP nun jedoch wieder bei 40 bis 43 Prozent und dürfte damit die absolute Mehrheit erneut verfehlen. Auch die HDP könnte ähnlich stark wie im Juni abschneiden. Die säkulare CHP und die ultranationalistische MHP dürften ebenfalls wieder im Parlament vertreten sein.
Sollte nach der Neuwahl erneut eine Koalition nötig werden, dann könnte die AKP mit der CHP oder der MHP über ein solches Bündnis verhandeln. Mit der pro-kurdischen HDP will die AKP auf keinen Fall koalieren.