No-Deal-Vorbereitungen

Brexit: Wird Kent zur Toilette Englands?

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Im Hinterland des wichtigen Hafens von Dover sieht die Lage nicht so rosig aus

"Sacred" - heilig - steht auf einem Grabstein im Garten der kleinen Sevington Church aus dem 13. Jahrhundert im englischen Ashford. Doch von heiliger Ruhe kann hier seit Monaten keine Rede mehr sein. Tag und Nacht schaufeln auf einem riesigen Areal nur wenige hundert Meter entfernt die Bagger tonnenweise Erdreich, um in Rekordzeit eine riesige Zollabfertigungsanlage fertigzustellen.
 
"Schuld" ist der Brexit. In etwas mehr als zwei Wochen endet die Übergangsphase nach dem bereits im Jänner vollzogenen EU-Austritt. Doch die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen stecken fest. Gelingt es nicht, bis Jahresende einen Deal abzuschließen, fallen vom 1. Jänner an Zölle auf Waren an, die von Großbritannien nach Europa gehandelt werden und andersherum. Neben den höheren Kosten für Händler und Verbraucher ein ungeheurer Mehraufwand an Bürokratie, wenn auch inzwischen meist elektronisch.
 
Die Befürchtung ist, dass viele Brummifahrer ohne die notwendigen Dokumente die Fahrt über den Ärmelkanal oder durch den Eurotunnel antreten könnten. Dann droht ein gigantischer Verkehrskollaps, wenn von hinten immer weitere Lkws anrollen.
 

"Toilette Englands"

Britische Medien warnten bereits, der "Garten Englands", wie die südostenglische Grafschaft Kent oft bezeichnet wird, könnte künftig zur "Toilette Englands" werden, wenn Tausende Lastwagenfahrer am Straßenrand ihre Notdurft verrichten. Die Regierung hat zwar versprochen, ausreichend mobile Klos aufzustellen, doch die Details lassen auf sich warten. In Ashford rund 36 Kilometer von den weißen Klippen in Dover entfernt soll sichergestellt werden, dass alle Formalitäten stimmen und es gar nicht erst zum Kollaps kommt.
 
Terry Button, der in einem Haus nur einen Steinwurf von der riesigen Baustelle entfernt wohnt, erinnert sich, wie heuer im Juli alles begann: "Die haben es am Freitag gekauft und am Montag mit den Bauarbeiten angefangen." Erst sei fünf Tage die Woche daran gearbeitet worden. "Jetzt sind es 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche." Der 62-Jährige stört sich an der Luftverschmutzung, dem Krach und den Scheinwerfern, die ihm nachts im Schlafzimmer Lichtkegel an die Wand werfen. Zudem seien die Häuser in der Umgebung nun kaum noch zu verkaufen.
 

Schuldzuweisungen

Die Schuld sieht der Brexit-Befürworter Button aber nicht in erster Linie bei der eigenen Regierung, sondern bei der EU - denn die stelle sich bei den Verhandlungen über einen Brexit-Handelspakt stur. Sollte es am Ende doch noch einen Deal geben, wäre möglicherweise sogar alles umsonst gewesen, ärgert er sich.
 
Die Grünen-Gemeinderätin von Ashford, Liz Wright, fragt sich, ob das Gelände überhaupt rechtzeitig fertig werden kann. "Niemand weiß das", sagt sie. Warum erst vier Jahre nach dem Brexit und Hals über Kopf mit den No-Deal-Vorbereitungen begonnen wurde, kann sie auch nicht so recht verstehen. "Meine Meinung ist, dass diese Regierung vollkommen inkompetent ist."
 
Zweifel an den Brexit-Vorbereitungen im Land äußerte auch kürzlich ein Ausschuss um britischen Oberhaus. Zwar werden Kontrollen zunächst nur in eine Richtung anfallen, weil die Regierung in London entschieden hat, auf Monate hinaus einfach alles durchzuwinken, was vom Kontinent kommt, doch es bleibt trotzdem eine Herkulesaufgabe.
 

Große Unsicherheiten

Dem EU Goods Sub-Committee zufolge gibt es große Unsicherheiten darüber, ob die notwendigen IT-Programme einsatzfähig sind, die Infrastruktur fertig sein wird, das Verkehrsmanagement funktionieren wird und ob insbesondere kleinere Unternehmen mit dem Mehraufwand an Formalitäten zurechtkommen werden. Zudem sorgen sich die Abgeordneten um das Wohlergehen von Fahrern und Tieren, die für eine lange Zeit im Stau stecken bleiben könnten. Notfallpläne seien "schwach und schlecht entwickelt".
 
Zu allem Übel werden es nicht nur die Zollkontrollen im Fall eines No Deals sein, die zu einem Verkehrschaos führen könnten. Selbst wenn noch rechtzeitig ein Abkommen zustande kommen sollte, müssten Angaben zu Herkunft und Produktstandards gemacht werden. Zum Schutz von Herkunftsbezeichnungen (zum Beispiel Champagner), Bio-Zertifikaten und vor der Einschleppung von Tier- und Pflanzenseuchen werden auch Kontrollen notwendig sein.
 
In einem Brief der Ausschussvorsitzenden an den für die No-Deal-Planung zuständigen Staatssekretär Michael Gove heißt es: "Unabhängig von den Verhandlungen wird der Mangel an Vorbereitung der Regierung in den Jahren seit dem Referendum zu unnötigen Behinderungen im Handel zwischen der EU und Großbritannien führen."
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