Im kommenden Jahr könnte Langzeit-Präsident Recep Tayyip Erdogan abgewählt werden.
Wohl auch die größten Optimisten in der Ukraine glauben nicht, dass sie tatsächlich stattfinden kann: In dem vom Nachbarn Russland überfallenen EU-Beitrittskandidatenland soll im Oktober ein neues Parlament gewählt werden. Wahrscheinlicher ist, dass uns der Ukraine-Krieg auch das ganze Jahr 2023 beschäftigen wird. Die spannendste Wahl des Jahres wird somit jene in der Türkei, wo nach Jahren der Wirtschaftsmisere der Stuhl von Präsident Recep Tayyip Erdogan wackelt.
Die Türkei wählt im Juni den Staatspräsidenten und das Parlament. Umfragen lassen eine Bestätigung des langjährigen Machthabers Erdogan und seiner islamisch-konservativen AKP nicht sicher scheinen. Nicht wirklich als Zeichen der Stärke wird gewertet, dass der 68-Jährige jüngst versichert hat, seine Landsleute nur noch um ein einziges Mandat bitten zu wollen. Schließlich sind viele Türken des seit dem Jahr 2003 zunächst als Premier und dann als Präsident amtierenden starken Mannes überdrüssig. Nachdem seine Regierung durch hohe Inflation und wirtschaftliche Probleme arg gebeutelt wurde, konnte Erdogan in den vergangenen Monaten aber politisch wieder etwas Tritt fassen. Für seine Vermittlerrolle im Krieg zwischen Russland und der Ukraine bekam er großes Lob auch aus Österreich, das ihm zuvor jahrelang sehr kritisch gegenüber gestanden war. Das Thema der türkischen EU-Ambitionen scheint ebenso vom Tisch wie die europäische Kritik an den Menschenrechtsverletzungen im Land.
Entscheidendes Jahr für Trump
Neben dem Ukraine-Krieg dürften weiterhin die Flüchtlingspolitik und der globale Konflikt zwischen dem Westen und China die internationale Großwetterlage prägen. In den USA droht eine Vertiefung des politischen Stillstandes, übernehmen die oppositionellen Republikaner doch bei der Konstituierung des neuen Kongresses am 3. Jänner die Kontrolle über das Abgeordnetenhaus. Damit dürfte der Untersuchungsausschuss zum Kapitol-Sturm Geschichte sein. Den Senat werden weiterhin die Demokraten von US-Präsident Joe Biden kontrollieren. Mit Spannung wird erwartet, ob es im letzten Vor-Wahljahr zu einer Klärung des Richtungsstreits innerhalb der Republikaner kommt und ob Ex-Präsident Donald Trump seine umstrittenen Comeback-Ambitionen fallen lässt. Davon hängt auch ab, ob Amtsinhaber Biden neuerlich antreten wird.
Ganz oben auf der politischen Agenda bleiben wird auch der Klimawandel. Nach dem mäßigen Ergebnis der Klimakonferenz in Sharm-el-Sheikh nimmt die Weltgemeinschaft Kurs auf die COP28, die vom 30. November bis 12. Dezember in Dubai stattfinden soll. Im Vorfeld der Konferenz ist wieder ein Gipfel der 20 größten Industrie- und Schwellenländer (G20) geplant, und zwar in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi. Den Vorsitz in der Gruppe der sieben wichtigsten Industrieländer (G7) hat nächstes Jahr Japan inne. Als Ort für das jährliche Gipfeltreffen (19.-21.5.) hat Regierungschef Fumio Kishida die Stadt Hiroshima ausgesucht, den Schauplatz des ersten Atombombenabwurfes im Jahr 1945.
Fokus auf Polen und Spanien
Auf EU-Ebene könnte kommendes Jahr durchaus etwas weitergehen. So dürfte die österreichische Blockade des Schengen-Beitritts Rumäniens und Bulgariens wohl eher früher als später enden. Auch die Chancen auf den seit Jahren ersehnten Durchbruch in der EU-Migrationspolitik stehen nach entsprechenden Vorarbeiten des tschechischen Ratsvorsitzes so gut wie seit der Flüchtlingskrise 2015 nicht mehr. Am Ruder sind mit Schweden und Spanien zwei routinierte EU-Staaten. Im ersten Halbjahr darf die neue schwedische Mitte-Rechts-Regierung ihre Bewährungsprobe absolvieren. Weil die rechtspopulistischen Schwedendemokraten das Kabinett nur tolerieren, aber keine Ministerposten haben, drohen keine Eklats bei Ratssitzungen in Brüssel. Der spanische EU-Ratsvorsitz im zweiten Halbjahr könnte von der dortigen Parlamentswahl überschattet werden. Jedenfalls ist 2023 das letzte volle Jahr der aktuellen EU-Legislaturperiode, wird doch im Frühjahr 2024 das Europaparlament neu gewählt. Weil dann auch EU-Kommission und EU-Ratspräsident neu bestimmt werden, ist die EU-Politik damit über mehrere Monate praktisch gelähmt. Umso größer ist der Druck, noch 2023 etwas weiterzubringen.
In sieben EU-Staaten werden nächstes Jahr die wesentlichen politischen Weichen neu gestellt. Der Fokus liegt dabei auf Polen und Spanien, wo im November und Dezember Parlamentswahlen stattfinden. In beiden Ländern hoffen konservative Oppositionsparteien auf einen Sieg. Dies wäre auch von großer symbolischer Bedeutung, ist die erfolgsverwöhnte Europäische Volkspartei (EVP) doch aktuell in keinem der fünf großen Mitgliedsstaaten an der Macht. In Polen fordert Ex-EU-Ratspräsident Donald Tusk die nationalkonservative Regierung von Jaroslaw Kaczynski heraus, in Spanien kämpft der sozialdemokratische Premier Pedro Sánchez gegen eine Allianz aus Konservativen und Rechtspopulisten, die schon in einer Reihe von Regionalregierungen ans Ruder gekommen ist.
Gleich mehrere Zugpferde unter den EU-Regierungschefs müssen nächstes Jahr ihre Ämter verteidigen. Es sind dies die estnische Regierungschefin Kaja Kallas (März), der Luxemburger Xavier Bettel (Oktober) und die Finnin Sanna Marin (April). Sie alle werden unter anderem wegen ihrer klaren Positionierung in europapolitischen Fragen als mögliche künftige EU-Ratspräsidenten ab 2024 gehandelt. Bereits im Februar muss sich der Veteran der EU-Gipfel, der zypriotische Präsident Nikos Anastasiades, dem Votum seiner Bürger stellen. Im Juli folgt dann der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis. Mit besonderem Interesse wird auch eine deutsche Regionalwahl verfolgt werden, und zwar die bayerische Landtagswahl im Oktober.
Explosive Lage am Westbalkan
Bundespräsident Alexander Van der Bellen bekommt gleich zu Beginn seiner zweiten Amtszeit einen neuen tschechischen Amtskollegen. Bei der Präsidentenwahl am 12. und 13. Jänner darf Amtsinhaber Miloš Zeman nämlich nicht ein drittes Mal antreten. Um seine Nachfolge bewirbt sich unter anderen der umstrittene liberapopulistische Ex-Premier Andrej Babiš und der Ex-Generalstabschef Petr Pavel. Umfragen zufolge ist aber die unabhängige Wissenschafterin Danuše Nerudová in der Favoritenrolle. Gewinnt sie, hätten vier der acht Nachbarländer Österreichs ein weibliches Staatsoberhaupt. In Ungarn amtiert Katalin Novák, in der Slowakei Zuzana Čaputová, in Slowenien Nataša Pirc Musar. Mit Ausnahme von Novák wurden sie jeweils vom Volk gewählt.
Explosiv dürfte die Lage auf dem Westbalkan bleiben. Optimisten sehen jedoch auch ein "Mondfenster" für eine Lösung der langjährigen zwischen- und innerstaatlichen Konflikte in der Region, zumal dort - abgesehen von der Präsidentenwahl in Montenegro (April) - keine wesentlichen Wahlen bevorstehen. Auch die EU-Annäherung des Westbalkan hat im Sog des Ukraine-Kriegs neuen Schwung bekommen. So erhielt Bosnien-Herzegowina im Dezember nach jahrelangem Warten endlich den ersehnten Titel eines EU-Beitrittskandidaten, während der Kosovo als letztes Land der Region einen Beitrittsantrag stellte. Damit steigt der Druck auf Belgrad und Pristina, ihren seit Jahren dauernden völkerrechtlichen Streit endlich beizulegen.
Außereuropäisch stechen die Wahlen in Argentinien (Oktober), Nigeria (Februar), der Demokratischen Republik Kongo (Dezember), Simbabwe (Juli) und Pakistan (Oktober) hervor. Eher symbolischen Charakter werden die Wahlen in der kommunistischen Diktatur Kuba (März) sowie in den beiden Militärdiktaturen Thailand (Mai) und Myanmar (August). Auch in Kambodscha (Juli) ist die Rolle der postkommunistischen Volkspartei von Ministerpräsident Hun Sen ungefährdet.