Dieses EU-Land kann dadurch zum Hauptziel für illegale Flüchtlinge werden.
Der Chef der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, hat vor einer Verschiebung der Flüchtlingsrouten nach Europa gewarnt. Statt von Libyen nach Italien überzusetzen, versuchten immer mehr Migranten, von Marokko über das westliche Mittelmeer nach Spanien zu gelangen, sagte er der "Welt am Sonntag". "Wenn Sie mich fragen, was meine größte Sorge derzeit ist: Dann sage ich Spanien."
Allein im Juni zählte Frontex rund 6.000 irreguläre Grenzübertritte aus Afrika nach Spanien, wie Leggeri sagte. Bei etwa der Hälfte handle es sich um Marokkaner, die anderen stammten aus Westafrika. "Wenn die Zahlen dort so steigen wie zuletzt, wird sich dieser Weg zum wichtigsten entwickeln." Nach Frontex-Angaben schlagen Schlepper Migranten im Transitland Niger seit Kurzem öfter vor, die westliche Route über Marokko statt über Libyen nach Europa zu nehmen.
Bisher waren die meisten Migranten, die übers Mittelmeer kamen, in Italien angekommen. Spanien rangierte hinter Griechenland nur auf dem dritten Platz. Die neuesten Zahlen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zeigen, dass eine Trendwende eingesetzt hat: Waren im ersten Halbjahr 2017 noch rund 85.000 Migranten in Italien und nur 6.500 in Spanien angekommen, so waren es im gleichen Zeitraum 2018 in Italien nur noch 16.700 - und in Spanien bereits 15.600. Die Gesamtzahl der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa kamen, lag der Statistik zufolge aber im ersten Halbjahr nur noch bei knapp 46.500. Sie hat sich somit mehr als halbiert.
Erst am Samstag bargen Seenotretter in der Meerenge von Gibraltar und im Alboran-Meer zwischen der Iberischen Halbinsel und Nordafrika 150 Menschen auf fünf Booten, wie die Nachrichtenagentur "Europa Press" meldete. Die Menschen aus afrikanischen Staaten südlich der Sahara seien in die spanische Region Andalusien gebracht worden. Der Großteil von ihnen sei in Malaga an Land gegangen.
Italiens neue Populisten-Regierung fährt seit Wochen einen harten Kurs in der Flüchtlingspolitik. Zuletzt hat Innenminister Matteo Salvini von der rechten Lega mehreren Rettungsschiffen die Einfahrt in einen Hafen verwehrt. Spanien hatte daraufhin der "Aquarius" von Ärzte ohne Grenzen und SOS Mediterranée und der "Open Arms" der spanischen Organisation Proactiva Open Arms erlaubt, spanische Häfen anzulaufen. Die "Lifeline" der deutschen Organisation Mission Lifeline durfte nach langem Ausharren nach Malta. Gegen den Kapitän Claus-Peter Reisch wird ermittelt. Ihm wird unter anderem vorgeworfen, ohne richtige Registrierung in maltesische Gewässer gefahren zu sein. Zuletzt war auch ein Flugzeug deutscher Seenotretter auf Malta festgesetzt worden.
Reisch warnte in der "Sunday Times of Malta" vor bisher noch nicht absehbaren und dramatischen Folgen dieser Maßnahmen: "Boote werden weiter Libyen verlassen. Mit dem nun festgesetzten Flugzeug geht ein weiterer Vorhang zu, es gibt keine Möglichkeit mehr zu bezeugen, was passiert", so Reisch. Ohne die Nichtregierungsorganisationen könne keiner mehr das wahre Ausmaß der Tragödie öffentlich machen, warnte der 57-Jährige. Die Zahl der Todesopfer sei zwei oder sogar drei Mal höher, als bekannt sei.
In deutschen Städten demonstrierten am Samstag mehrere tausend Menschen für sichere Flüchtlingsrouten im Mittelmeer und gegen eine Kriminalisierung der Seenotrettung. Den größten Protestzug gab es in Berlin, aber auch in Bremen, Leipzig und Frankfurt fanden Kundgebungen statt. Auf Transparenten hieß es: "Stoppt das Sterben im Mittelmeer", "Stell dir vor, Du ertrinkst und keiner sieht hin" oder "Festung Europa? Nicht in meinem Namen!" Auch auf Malta gab es Aktionen. In Italien beteiligten sich zahlreiche Prominente an einer Aktion, rote T-Shirts als Zeichen der Solidarität mit Flüchtlingsrettern zu tragen. "Leider habe ich zu Hause kein rotes T-Shirt gefunden, mit dem ich mich fotografieren lassen könnte", machte sich Salvini über die Aktion lustig.
Wirbel um Papier des österreichischen EU-Ratsvorsitzes
Frontex-Chef Leggeri plädierte dafür, die vom EU-Gipfel gebilligten neuen Pläne für zentrale Sammellager in Afrika voranzutreiben, damit kein Migrant mehr davon ausgehen könne, dass er nach seiner Rettung nach Europa gebracht werde. "Wenn es diesen Automatismus nicht mehr gibt, können wir das kriminelle Geschäftsmodell erfolgreich bekämpfen." Für Aufsehen sorgte am Wochenende ein Papier des österreichischen EU-Ratsvorsitzes, in dem als Ziel formuliert wurde, dass künftig nur noch in Ausnahmefällen überhaupt Asyl auf europäischem Boden beantragt werden können soll. Regierungssprecher Peter Launsky-Tieffenthal betonte aber gegenüber dem Nachrichtenmagazin "profil", dass dieses Papier lediglich ein "Denkanstoß" auf Beamtenebene gewesen sei und durch die Beschlüsse des jüngsten EU-Gipfels bereits "überholt" worden sei.
Die Europäische Union hatte sich bei ihrem Gipfeltreffen vergangene Woche unter dem Eindruck der deutschen Regierungskrise auf eine Verschärfung ihrer Asylpolitik geeinigt. Frontex soll bis 2020 verstärkt werden, um die EU-Außengrenzen stärker abzuriegeln. Gerettete Bootsflüchtlinge können künftig in zentralen Sammellagern in der EU untergebracht werden. Ähnliche Lager in Nordafrika werden geprüft. Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) betonte in der Tageszeitung "Österreich" (Sonntagsausgabe), dass in solchen Lagern keine Asylanträge gestellt werden dürften, "denn dann beginnt die Schlepperei von vorn". Er wird kommende Woche bei einem informellen Treffen in Innsbruck mit seinen EU-Kollegen über die Flüchtlingspolitik beraten.
Frontex-Chef für Unterkünfte in Nordafrika
"Ich halte es für besonders wichtig, dass man nun das Ziel von Unterkünften direkt in Nordafrika verfolgt", sagte Frontex-Chef Leggeri. "Wir müssen Menschen in Seenot retten, das wird immer so sein. Aber ich finde es ganz interessant, dass der EU-Rat klargemacht hat, dass die Ausschiffung auch in nicht-europäischen Staaten stattfinden könnte."
Frontex hat zurzeit gut 500 Mitarbeiter und ein Budget von rund 300 Millionen Euro. Die Zahl der festen Frontex-Mitarbeiter, die eng mit den nationalen Küstenwachen und Grenzbehörden kooperieren, soll sich bis 2020 mindestens verdoppeln. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte am Freitag bei einem Besuch in Wien vorgeschlagen, schon im September konkrete Gesetzesvorschläge für einen besseren Außengrenzschutz unterbreiten zu wollen.