Türkei-Wahl

Kilicdaroglu braucht bei Stichwahl am Sonntag ein Wunder

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Vor dem ersten Wahldurchgang wurden ihm gute Siegeschancen zugesprochen - bei der Stichwahl am Sonntag in der Türkei gibt es nun aber nur noch wenig Hoffnung, dass sich Kemal Kilicdaroglu durchsetzt. Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan geht als klarer Favorit ins Rennen. 

Zwar ist dem 74-jährigen Kilicdaroglu, der als bescheiden und besonnen gilt, etwas gelungen, was vor ihm noch keiner geschafft hat: Langzeit-Herrscher Erdogan muss erstmals in eine Stichwahl - genauer: in die erste Stichwahl in der Geschichte des Landes.

Um den Präsidenten zu besiegen, wäre für den Oppositionspolitiker, der ein Bündnis von sechs Parteien anführt, allerdings ein Wunder nötig. Erdogan verfehlte im ersten Wahldurchgang am 14. Mai mit 49,5 Prozent der Stimmen die erforderliche Mehrheit nur knapp - während Kilicdaroglu nur 44,9 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte. Am Montag verkündete zudem der drittplatzierte Kandidat und Ultranationalist Sinan Ogan, bei der Stichwahl Erdogan zu unterstützen.

Während die Opposition bisher im Wahlkampf vor allem die Wiederherstellung der Demokratie in den Mittelpunkt gestellt hatte, umwarb nach der ersten Wahlrunde nun auch Kilicdaroglu die Wähler des rechtsnationalistischen Lagers und kündigte insbesondere mit Blick auf Syrien in ungewohnt scharfem Ton an, er werde "alle Flüchtlinge nach Hause schicken, sobald ich an die Macht komme".

Tugend und Vernunft

Der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei CHP will das Land "mit Tugend und Vernunft" regieren - und positioniert sich damit als Anti-Erdogan. Er gilt als zurückhaltend und besonnen - in einem "Tagesthemen"-Interview wurde er wegen seines Stils gar mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz verglichen.

Kilicdaroglu wurde als gemeinsamer Kandidat eines Oppositionsbündnisses aus sechs Parteien ins Rennen geschickt. Ende April rief auch die pro-kurdische HDP zur Unterstützung des Erdogan-Herausforderers auf.

Der intellektuelle Sozialdemokrat mit der randlosen Brille schien lange Zeit wenig ausrichten zu können gegen den lautstarken Erdogan, der gern den starken Mann gibt. Doch nach dem verheerenden Erdbeben Anfang Februar machten viele Türken den Präsidenten für die schleppende Hilfe verantwortlich. Kilicdaroglu warf der Regierung Inkompetenz im Umgang mit der Katastrophe vor und prangerte die Korruption im Bauwesen und im Machtapparat an.

Kilicdaroglu will eigenen Worten zufolge der Türkei die "Demokratie wiederbringen" und das von Erdogan eingeführte Präsidialsystem abschaffen, das er als "Ein-Mann-Regime" kritisiert. Künftig soll wieder das Parlament den Regierungschef wählen. Um das durchzusetzen, bräuchte die Opposition allerdings eine starke Mehrheit im Parlament. Bei der Parlamentswahl am 14. Mai konnte indes Erdogans Regierungsallianz ihre Mehrheit verteidigen.

Seit 2010 an der Spitze der CHP

Seit 2010 steht Kilicdaroglu an der Spitze der CHP - der Partei von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Unter seiner Führung öffnete sich die einst streng säkulare, linksnationalistische Republikanische Volkspartei konservativen Kreisen und näherte sich den Kurden wieder an. Auf die Gefahr hin, seine eigenen Reihen zu verärgern, schloss Kilicdaroglu vor der Wahl aber Bündnisse mit rechten Parteien und nahm verschleierte Frauen in die CHP auf.

2010 bezeichnete sich Kilicdaroglu, der als Ökonom lange Jahre die Sozialversicherungsbehörde leitete, als die "stille Kraft". Der schmale Mann mit dem grauen Schnurrbart brauchte einige Zeit, den richtigen Ton in seinen Reden zu finden, die als zu "weich" empfunden wurden. Doch im Laufe der Jahre gelang es ihm nach und nach, sich in der öffentlichen Debatte Gehör zu verschaffen.

Im repressiven Klima nach dem Putschversuch 2016 unternahm Kilicdaroglu 2017 einen 420 Kilometer langen Marsch von Ankara nach Istanbul, um gegen die Inhaftierung eines CHP-Abgeordneten zu protestieren. 2019 eroberte die CHP die Bürgermeisterämter in mehreren Großstädten, darunter Istanbul und Ankara, und beendete dort damit die jahrelange Herrschaft von Erdogans islamisch-konservativer AKP.

Gestärkt durch diese Siege, verschärfte der Erdogan-Herausforderer den Ton. Sein Auftritt beim türkischen Statistikamt, dem er vorwirft, die Inflationszahlen zu schönen, oder seine Kritik an Unternehmern, sich durch ihre Nähe zur Macht zu bereichern, trugen zu seinem Image als redlicher Politiker bei.

Kritiker monieren dennoch, dass es Kilicdaroglu für das höchste Staatsamt an Charisma mangele. Auch seine Herkunft gilt als Handicap. Er stammt aus der kurdisch geprägten Provinz Dersim (heute Tunceli), in der viele Aleviten leben. Mitte April hatte der 74-Jährige erstmals öffentlich seine Zugehörigkeit zum Alevitentum bekannt - und so mit einem großen Tabu in der Türkei gebrochen. "Ich bin Alevit, ich bin ein aufrichtiger Muslim", sagte er.

Die Aleviten, die einigen Regeln und Riten des Islam nicht folgen, sind in der Vergangenheit in der Türkei Opfer von Diskriminierung und Verfolgung geworden. Bei einem Wahlsieg wäre Kilicdaroglu der erste alevitische Präsident der Türkei.

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