Herbert Bauernebel schildert das Leben in der Metropole: "Vor den Krankenhäusern in New York riecht es nach Tod".
Es ist der 20. März. Meine Tochter Mia (12) ruft mich aus der Schule an: „Daddy, kannst du mich abholen, ich habe Angst!“ Die Hälfte der Klassenkameraden ist nicht mehr zum Unterricht erschienen. Wenige Tage später sind die Schulen dicht. Eine bleierne Stimmung legt sich über die Metropole: New York wird zur Geisterstadt, Angst grassiert. Der Times Square, leer gefegt. Grand Central Station, kein Mensch.
Endzeitstimmung
Dann geht es los: Ununterbrochenes Sirenengeheul durchbricht die gespenstische Stille. Einmal sehe ich, wie eine Frau auf der Straße zusammenbricht. Zuerst sind es mehrere Opfer pro Tag, dann Dutzende, zuletzt Hunderte. Die Gefahr ist unsichtbar. Spitäler platzen aus allen Nähten: Kranke röcheln am Gang, Ärzte in Schutzkleidung – Szenen wie aus einem Endzeitfilm.
Ich schütze mich mit ein paar N95-Masken, die ich im Herd desinfiziere. Beim Heimkommen desinfiziere ich alles. Meine Frau plagen quälende Sorgen. Ich verstehe es. Aber es ist meine Arbeit, mein Job. Ich habe selber Angst.
Im Central Park steht plötzlich ein Zeltlazarett, zum ersten Mal seit dem amerikanischen Bürgerkrieg. Aber am schaurigsten: Vor jedem Spital stehen gekühlte Leichenlaster. Vor dem Brooklyn Hospital werden Tote in Leichensäcken mit einem Gabelstapler in Lkws gehievt.
Geruch des Todes
Vor dem Gebäude eines Bestatters in Brooklyn fahren die Vans mit Toten auf, drinnen weinen Angehörige. In allen Räumen liegen die Leichen, im Keller, in Vorräumen, auch in der Aufbahrungshalle. Nahe den Kühllastern vor den Krankenhäusern riecht es nach Tod.
Die Tage vergehen wie in Trance. Doch dann, endlich: So schnell wie das Sirenengetöse begonnen hatte, lässt es jetzt nach. Der Höhepunkt des Virus-Horrors ist überschritten. Es kommt zu Momenten der Hoffnung: New Yorker feiern die Helden der Coronavirus-Pandemie – Ärzte, Schwestern, Pfleger.
Tränen der Rührung
Inmitten des Horrors sind es wenige Minuten der Freude: Ein paar vom Spitalspersonal recken die Fäuste zu Jubelposen in die Höhe. Erstmals löst sich bei mir die Anspannung: Tränen kullern.
Wir alle haben wieder einmal gezeigt, wie unverwüstlich New York ist.