Joseph Ratzinger könnte die Reformen seines Nachfolgers untergraben.
Öffentliche Auftritte des emeritierten Papstes Benedikt sind seit seinem Rücktritt im März 2013 selten. Nur wenige Male hat sich Joseph Ratzinger in der Öffentlichkeit gezeigt. Dennoch lebt der 87-Jährige weiter im Vatikan, empfängt Besucher und veröffentlicht Schriften. Genau darin sehen Kritiker Probleme. Ist Ratzinger eine Art Schattenpapst, der dem Reformkurs seines Nachfolgers hintertreibt?
Befeuert wurde diese Diskussion durch eine Neuauflage der "Gesammelten Schriften" von Benedikt XVI. im Herder-Verlag. Sie enthält einen aktualisierten Aufsatz aus dem Jahr 1972, in dem es um den Umgang der katholischen Kirche mit wiederverheirateten Geschiedenen geht - ein durch die Familiensynode im Vatikan aktuelles und brisantes Thema. Während der Theologe Ratzinger damals eine Zulassung geschiedener Wiederverheirateter zur Kommunion nach einer Art Bewährungszeit durchaus für möglich hielt, verwirft er nun diese Möglichkeit.
Kritiker werfen ihm deshalb Einmischung in aktuelle Debatten vor - was nicht zu dem zurückgezogenen Leben passen würde, das er sich selbst bei seinem Rücktritt auferlegt hat. Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf hält Benedikts Verhalten für problematisch und stellt die Frage nach dem Motiv. "Ist es einfach Zufall, dass es jetzt passiert ist, während die Synode im September in Rom zum Thema Familie und Sexualmoral tagte? Oder wird er instrumentalisiert von Kreisen im Vatikan, die gegen die Reformschritte von Franziskus sind?", sagte er der Deutschen Presse-Agentur.
Für Pater Bernd Hagenkord, den Leiter der deutschsprachigen Redaktion von Radio Vatikan, ist die Veröffentlichung des Textes wenige Wochen nach der Synode "unglücklich, aber kein großes Problem". "Der Artikel ist am 4. August eingereicht worden, lange vor der Synode war er fertig", sagte er der dpa. "Ich sehe nicht, dass Benedikt seinem Nachfolger Probleme machen oder sich in eine aktuelle Debatte einmischen will." Auch Marco Politi, Papst-Biograf und Kommentator für die Tageszeitung "Il Fatto Quotidiano", hält den Text und seine radikale Änderung in der Schlussfolgerung für unproblematisch: "Diese Änderung hängt damit zusammen, dass Benedikt sich geändert hat seit den Zeiten, als er ein sehr radikaler reformfreudiger Theologe war."
Klar ist jedoch: Benedikt empfängt Besucher und publiziert Grußworte und Texte, die als Kommentar zu aktuellen kirchenpolitischen Diskussionen gewertet werden können. So dürfte Konservative und Traditionalisten erfreut haben, als er vor einiger Zeit ausdrücklich den alten lateinischen Messritus lobte, den vor allem diejenigen ablehnen, die für eine offene, dem Volke zugewandte Kirche plädieren.
"Damit positioniert er sich eindeutig in der aktuellen Debatte", schrieb Wolf, der an der Uni Münster lehrt und Mitglied des Exzellenzclusters "Religion und Politik" ist, zuletzt in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Es gebe seit längerem Befürchtungen, es könnten "zwei konkurrierende Machtzentren in der Kurie entstehen, mit Papst und Gegenpapst an ihrer Spitze".
Seiner Ansicht nach hätte Benedikt sich nach seinem Rücktritt in den Rang eines Kardinals zurückbegeben sollen. "Die Menschen sehen im Vatikan zwei in Weiß gekleidete Männer und denken, es gibt zwei Päpste." Das sorge für Irritationen. Hagenkord hingegen meint: "Jede Äußerung würde genauso unter die Lupe genommen, ob er nun Weiß trägt oder Schwarz." Seiner Ansicht nach leistet Ratzinger einen großen Dienst, da er nach dem Rücktritt zeige: "Es geht, es funktioniert."
Ähnlich sieht es Vatikanist Politi: "Vom persönlichen Standpunkt muss ich sagen, dass Benedikt sich von Anfang an, seit seiner Abdankung, immer absolut korrekt verhalten hat." Das Entscheidende aus seiner Sicht: "Dass es für Franziskus kein Problem ist." Politi sagte der dpa: "Papst Franziskus will, dass man sich daran gewöhnt, dass es ganz normal ist, ein emeritierter Papst zu sein." Wolf warnt hingegen, genau das verhindere Benedikt mit seinem Verhalten: "Das ist Wasser auf die Mühlen derer, die einen Papstrücktritt prinzipiell ausschließen wollen", meinte er.
Zumindest nach außen hin entspannt verfolgt Papst Franziskus selbst die Debatte. Benedikt sei für ihn wie ein "weiser Großvater" in der Nachbarschaft, sagte der Argentinier vor einigen Wochen. Seinen Entschluss zum Rücktritt bewertete er als Zeichen für kommende Päpste. "Er hat damit die Tür geöffnet für emeritierte Päpste, die es zuvor nicht gegeben hat", sagte Franziskus. "Ich würde das Gleiche tun."