Wiederkandidierender US-Präsident muss gegensätzliche Wählergruppen zufriedenstellen
Egal, wo er in den USA hinreist: Seit Monaten vergeht fast kein öffentlicher Auftritt von Präsident Joe Biden ohne pro-palästinensische Demonstrationen. Im ganzen Land gibt es kleine und größere Proteste. Viele bleiben friedlich, einige nicht. Inzwischen protestieren auch Studierende an etlichen US-Universitäten gegen den Gaza-Krieg - und damit gegen Bidens Nahost-Politik.
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Während dieser trotz öffentlich geäußerter Frustration mit der israelischen Regierung immer wieder betont, eisern an der Seite des Verbündeten zu stehen, wächst innenpolitisch der Druck auf den Demokraten.
Jeden Tag töten israelische Luftangriffe weitere Menschen im Gazastreifen. Jeden Tag verbreiten sich in den sozialen Medien immer neue, grausame Bilder. Inmitten des Konflikts hängt auch das Schicksal der israelischen Geiseln am seidenen Faden. Die Gemengelage mobilisiert gleich mehrere demokratische Kernwählergruppen: arabischstämmige und muslimische Amerikaner, amerikanische Jüdinnen und Juden, junge Menschen sowie Teile der schwarzen Wählerschaft, die sich mit dem Schicksal der Palästinenser identifizieren.
Kritik an Biden
Viele der Demonstranten werfen der US-Regierung und allen voran Biden vor, für einen Völkermord mitverantwortlich zu sein. Kritik gibt es auch wegen der immensen Polizeipräsenz bei den Protesten, mit der Biden zwar nichts direkt zu tun hat, die aber den Eindruck eines repressiven Staatsapparats füttert. Läuft der Demokrat dieses Jahr Gefahr, in einem voraussichtlich extrem knappen Rennen um das Weiße Haus deshalb wichtige Unterstützung zu verlieren?
Nach Ansicht von Politikwissenschaftlerin Wendy Schiller von der Brown University in Rhode Island ist es noch zu früh, um Aussagen darüber zu treffen, was die aktuelle Situation letztlich für Bidens Wiederwahlchancen bedeutet. Der Konflikt habe aber durchaus das Potenzial, die Menschen auf unterschiedliche Weise in ihrer Entscheidung zu beeinflussen. "In Swing States ist es wichtig, ob die Leute wütend auf Joe Biden sind", meint Schiller.
"Swing State"
Als "Swing State" werden all jene US-Staaten bezeichnet, die weder Demokraten noch Republikanern fest zugerechnet werden können. Wegen des Wahlsystems in den USA könnten dort schon einige Tausend Stimmen das erwartete Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Biden und seinem republikanischen Konkurrenten Donald Trump entscheiden. Dazu gehört in diesem Jahr etwa Arizona, wo derzeit an mehreren Universitäten Proteste stattfinden. Aber auch Michigan, ein Bundesstaat mit einer verhältnismäßig großen arabischstämmigen und muslimischen Gemeinde.
Für viele Menschen - gerade jene mit Familie und Freunden, die direkt vom Krieg betroffen sind - ist die Situation nahezu unerträglich. Das wurde bei der Vorwahl für die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten in Michigan deutlich: Rund 100.000 Wählerinnen und Wähler verweigerten Biden die Stimme. Einige haben jetzt schon angekündigt, dies auch im November zu tun. Allerdings sind Experten skeptisch, ob arabischstämmige und muslimische Wählerinnen und Wähler allein zahlenmäßig genügend Einfluss haben, um das Ergebnis für oder gegen Biden zu kippen.
Anders verhält es sich mit Jungwählern im Alter zwischen 18 und 29 Jahren. Bidens Wahlkampfteam werde in der kommenden Zeit viel Geld in digitale Wahlwerbung stecken, um zum Beispiel dessen Klimapolitik in den Vordergrund zu rücken, meint Schiller. Ziel sei es, den 81-Jährigen als Kandidaten des Fortschritts darzustellen und den 77-jährigen Trump als den des Rückschritts. Ob dies gelingen werde, hänge zwar auch von den Entwicklungen im Nahen Osten ab, sagt Schiller. "Ich glaube aber, er kann viele von ihnen zurückgewinnen."
In einer schwierigen Abwägung muss sich der Demokrat zeitgleich auf weitere Wählergruppen konzentrieren: In den USA gibt es geschätzt rund sechs Millionen wahlberechtigte jüdische Amerikanerinnen und Amerikaner, die tendenziell eher für Demokraten stimmen. Während sich ein Teil von ihnen selbst in der Protestbewegung engagiert, fühlt sich ein anderer von den radikaleren Demonstranten bedroht, denen Antisemitismus und die Verharmlosung der islamistischen Hamas vorgeworfen wird. Für Biden ist der Umgang damit ein Balanceakt.
Auch unter den vielen älteren Amerikanerinnen und Amerikanern - besonders in den Vorstädten - herrscht wegen der aktuell in Dauerschleife gezeigten Bilder eskalierender Proteste Unwohlsein. "Diese Bevölkerungsgruppe wird nervös, wenn sie Chaos sieht", sagt Schiller. "Und weil Trumps Chaos jetzt schon dreieinhalb Jahre her ist, erinnern sich die Leute nicht mehr daran." Gerade sei es leicht, Biden mit Gesetzlosigkeit und Kontrollverlust in Verbindung zu bringen - und die Republikaner seien "ziemlich gut" darin, dies für sich zu nutzen.
Das Weiße Haus bemühte sich mehrfach um beschwichtigende Worte. Am Donnerstag wandte Biden sich sogar persönlich an die Nation und versuchte offensichtlich, allen Seiten gerecht zu werden: Er warnte vor Gewalt, Antisemitismus und Islamophobie. Gleichzeitig pochte er auf das in den USA geschützte Recht auf freie Meinungsäußerung und friedlichen Protest. Auf Nachfrage erklärte er schließlich, die Demos hätten ihn nicht dazu veranlasst, seine Nahost-Politik zu überdenken.
"Das ganze Thema ist einfach eine Qual für den Präsidenten", sagt Wahlexperte Kyle Kondik von der University of Virginia. Er ist zwar skeptisch, ob der Gaza-Krieg wahlentscheidend sein wird. Dass Biden sich zu einem persönlichen Statement entschloss, zeige aber, dass er die Sache sehr ernst nehme, meint Kondik. Der Demokrat versuche, sowohl die Mitte seiner Wählerschaft als auch Linke anzusprechen und sich gleichzeitig von den Protesten zu distanzieren. "Ich bin mir nicht sicher, ob er dabei großen Erfolg hat."
Retten könnte Biden am Ende womöglich eher die Aussicht auf eine weitere Trump-Amtszeit. Die Studentin Emily Thompson wird im Swing State Pennsylvania ihre Stimme abgeben. Sie steht Biden nicht nur wegen des Gaza-Krieges kritisch gegenüber. Wie viele in ihrer Altersgruppe ist sie desillusioniert, fühlt sich von keinem der Kandidaten wirklich vertreten. Auch auf ihrem Campus wird demonstriert. Während dort einige noch unsicher sind, ob und wen sie wählen wollen, hat Emily sich schon entschieden. "Wohin wollen wir steuern, Trump?", schreibt sie in einer Textnachricht. "Zumindest in meinem Freundeskreis sind wir uns einig, dass wir für Biden stimmen müssen."