Ende eines Jahrhundert-Deals

Kreml verliert wichtigstes Gasgeschäft

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Die Zeiten des florierenden Gashandels zwischen Russland und Europa scheinen ein für alle Mal vorbei.

Das Milliardengeschäft und die wichtigste Einnahmequelle des Kremls ist ein Jahr nach Ausbruch des Krieges mit der Ukraine drastisch eingebrochen. Westliche Sanktionen, die Drosselung der gelieferten Gasmengen durch Russland und schließlich die Beschädigung der Nordstream-Gaspipelines - der Gashandel mit Europa wird sich wohl so schnell nicht wieder erholen.

Russland sucht daher nach neuen Absatzmärkten und ist im Osten fündig geworden: Nach China soll mehr Gas geliefert werden, geplant ist sogar der Bau einer neuen Pipeline. Doch es bleibt abzuwarten, ob das Reich der Mitte Europa als wichtigsten Gasmarkt ersetzen kann - und ob der Handel ebenso lukrativ sein wird.

Schafranik: "Ernste Prüfung für Russland"

"Natürlich ist der Verlust des europäischen Marktes eine sehr ernste Prüfung für Russland in Bezug auf Gas", räumt Juri Schafranik, russischer Brennstoff- und Energieminister von 1993 bis 1996, ein. Ein früherer leitender Manager des russischen Energieriesen Gazprom, der anonym bleiben will, formuliert es drastischer: "Die Arbeit von Hunderten von Menschen, die jahrzehntelang das Exportsystem aufgebaut haben, wird jetzt die Toilette hinuntergespült."

Seinen Ursprung hat der russisch-europäische Gashandel in der sibirischen Stadt Nowy Urengoi. Dort wurde 1966 das Gasfeld Urengoi entdeckt, es zählt zu den größten Vorkommen der Welt. Weil Russland damals über keine Produktionstechnologie verfügte, wurde mit Deutschland ein Deal geschlossen: Gas gegen Röhre. Das sogenannte Erdgas-Röhren-Geschäft von 1970, das in Essen vereinbart wurde, wird auch als "Jahrhundertvertrag" bezeichnet. Das Abkommen galt als wirtschaftlicher Eisbrecher im Kalten Krieg und zog eine Reihe von Folgeverträgen nach sich. Deutschland, Österreich und Europa profitierten jahrzehntelang von den relativ günstigen, langfristigen Gaslieferungen aus Russland.

Einbruch um fast die Hälfte

Doch damit ist nun Schluss. Daten zum russischen Gashandel sind seit Kriegsausbruch am 24. Februar letzten Jahres zwar nur schwer zu bekommen, weil der der staatliche Konzern Gazprom und viele andere russische Unternehmen die Veröffentlichung von Finanzergebnissen eingestellt haben. Laut Schätzungen, die sich auf Daten zu Exportgebühren und -volumen stützen, beliefen sich die Einnahmen von Gazprom aus Überseeverkäufen im Jänner 2023 auf rund 3,4 Milliarden Dollar, ein Einbruch um fast die Hälfte im Vergleich zu den 6,3 Milliarden Dollar im Vorjahresmonat.

Bereits im vorigen Jahr hatten sich die Gasexporte fast halbiert und einen Tiefststand in der Zeit nach der Sowjetunion erreicht. EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen schätzte, dass Russland in den ersten acht Monaten nach Beginn des Krieges 80 Prozent der Gaslieferungen in die EU eingestellt hat. Infolgedessen deckte Russland zum Jahresende nur noch etwa 7,5 Prozent des europäischen Gasbedarfs, während es 2021 noch rund 40 Prozent waren. Vor Kriegsausbruch war Russland noch zuversichtlich gewesen, mehr und nicht weniger Gas nach Europa zu verkaufen.

Putin will Gaslieferungen diversifizieren

Russlands Präsident Wladimir Putin will schon länger die Gaslieferungen diversifizieren. Nun gewinnen diese Bemühungen an Dynamik. Im Oktober schlug Putin vor, in der Türkei einen internationalen Gas-Hub aufzubauen, um die Gasströme aus der Ostsee und Nordwesteuropa umzuleiten. Zudem sollen die Verkäufe an China, den weltweit größten Energieverbraucher und wichtigsten Abnehmer von Rohöl, Flüssigerdgas (LNG) und Kohle, erhöht werden. Die Lieferungen nach China über die Röhre "Power of Siberia", eine der längsten Gas-Pipelines der Welt, sollen ab 2025 auf rund 38 Milliarden Kubikmeter steigen. Zudem wurde vereinbart, weitere zehn Milliarden Kubikmeter pro Jahr über eine noch zu bauende Pipeline von der Pazifikinsel Sachalin zu liefern, wo Russlands bedeutendste Öl- und Gasvorkommen liegen. Außerdem verfolgt Russland Pläne für den Bau der Pipeline "Power of Siberia 2", die theoretisch weitere 50 Milliarden Kubikmeter pro Jahr nach China bringen könnte. Ob die Geschäfte mit China für Russland so lukrativ sein werden, wie die jahrzehntelangen Gaslieferungen nach Europa, bleibt abzuwarten.

Die Verhandlungen mit China über neue Gaslieferungen dürften sich nämlich als komplex erweisen, nicht zuletzt, weil China voraussichtlich erst nach 2030 zusätzliches Gas benötigen wird, sagen Branchenanalysten. Darüber hinaus bekommt Russland im Zuge der weltweiten Bemühungen, die Auswirkungen des Klimawandels zu begrenzen, den stärkeren Wettbewerb durch erneuerbare Energien zu spüren. Gas wird auch von Turkmenistan nach China geliefert. Zudem hat Flüssigerdgas (LNG), das überall auf der Welt verschifft werden kann, den Bedarf an Pipeline-Gas reduziert.

Vereinbarten Gaspreis geheim gehalten

Gazprom und China haben ihren vereinbarten Gaspreis geheim gehalten. Ron Smith, Analyst bei der Moskauer Maklerfirma BCS, geht davon aus, dass der Preis für 2022 im Durchschnitt 270 Dollar pro 1.000 Kubikmeter betragen hat, was deutlich unter den Preisen in Europa liegt. Er liegt auch unter dem Exportpreis von Gazprom in Höhe von 700 Dollar pro 1.000 Kubikmeter, den das russische Wirtschaftsministerium für dieses Jahr erwartet. Offizielle Schätzungen gibt es für 2022 bisher keine.

In Europa erreichten die Gaspreise Rekordhöhen, und die Ölpreise stiegen kurz nach Kriegsbeginn in die Nähe ihres Allzeithochs von fast 150 Dollar je Fass (159 Liter) aus dem Sommer 2008. Seitdem sind die Preise für Öl und Gas wieder gesunken. Die im Dezember und Anfang dieses Jahres eingeführten westlichen Preisobergrenzen werden die Einnahmen Russlands wohl weiter schmälern. In der Zwischenzeit hat der Kreml Gazprom die Mammutaufgabe gestellt, 24.000 Kilometer neue Pipelines zu bauen, um 538.000 Haushalte und Wohnungen in Russland bis 2025 mit Gas zu versorgen.

In der Gasförderstadt Nowy Urengoi, wo die Temperaturen im Winter auf fast minus 50 Grad Celsius fallen, ist man noch gelassen. "Für uns hat sich nichts geändert. Wir hatten letztes Jahr zweimal eine Gehaltserhöhung", erzählt ein Gazprom-Mitarbeiter. "Wir werden einfach mehr Gas für unsere heimischen Haushalte verwenden müssen, anstatt es nach Europa zu exportieren. Auch China braucht Gas."

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